November 1942: Jeden Tag kommen sieben Schuss

Geschwind folge ich an einem Novembernachmittag 1942 unseren Kompanieführer durch den Hauptkampfgraben des Infanterieregiments 460 wo der von mir zu übernehmende Maschinengewehrzug eingesetzt ist.

Es ist schon fast dunkel. Ab und zu kommt uns ein Essenholer entgegen, der in jeder Hand einen Fächer leerer Kochgeschirre hält und zur Feldküche eilt, die sich nur in der Dämmerung in Grabennähe vorwagen kann. Dicke, nasse Schneeflocken bilden auf Stahlhelm und Schultern meines Vordermannes eine weise Packlage. Es ist unangenehm nasskalt, Novemberwetter.

Funkarbeitsplatz

Funkarbeitsplatz

Mir wird bewusst, in welcher verschiedener Form man den Krieg auch im selben Frontabschnitt erleben kann, und es fällt mir ein was ein Kamerad des Nachrichtenregiments, dem ich früher angehörte, anlässlich meiner Versetzung sagte: „Ein Unteroffizier bei den Nachrichten habe es zehn mal besser als ein Leutnant bei der Infanterie.“

Seitlich geht es in einen kurzen Stichgraben, dann trippelt der Kompanieführer einige Stufen hinunter, stemmt sich mit seinem Oberkörper mehrmals gegen eine Bunkertür die über den Boden ratschen ruckweise nachgibt.

Ein dunkles Loch tut sich auf, in den es nach nassen Kleidern und nach menschlichen Ausdunstungen riecht. Der Schein der Taschenlampe huscht über zweistöckige Pritschen, ein erkaltetes Kanonenöfchen in der Mitte des Raums, der Lichteinfall erfasst einen an einem Tischchen sitzenden Soldaten, der vornüber gebeugt seinen Kopf auf die Unterarme gelegt hat und schnarcht. Schnarchtöne kommen auch von den Pritschen.

Der Kompanieführer rüttelt den Mann. Vor uns steht ein hoch gewachsener Unteroffizier der vom Lichtschein, geblendet grimassierend und schlafwandlerisch sicher seine Meldung macht: „Bunker Unteroffizier Meinecke belegt mit einem Unteroffizier und fünf Mann; zwei Mann auf Posten, einer zum Essenempfang!“

Weiter geht es zum nächsten Bunker, der etwa 500 Meter entfernt in einer weiten Grabenausbuchtung liegt. Zwischen diesen beiden Unterständen habe ich die Wahl. Ich entscheide mich – reiner Zufall—für den Letzteren. Der Zufall ist im Kriege ein wichtiger Geselle, der oft über Leben und Tot entscheidet. Mir ist er auch diesmal wohlgesinnt.

Winter 1942

Winter 1942

Mehrmals in der Woche – Offiziere sind bei der Infanterie knapp, deshalb bin ich auch hierher versetzt – habe ich Streifendienst. Jedes Mal ist dann der Hauptkampfgraben im Regimentsabschnitt, Länge fünf bis sechs Kilometer, einmal vor und einmal nach Mitternacht zu begehen und zu kontrollieren.

Am Ende einer solchen Grabenstreife nach Mitternacht – ich meine, dass es zwischen Weihnachten und Neujahr gewesen sei – springe ich noch schnell zu dem Unteroffizier Meinecke herein, der an seinem Tischchen sitzt und in aufgeräumter Stimmung eine Menge Fotos vor sich hat. Wir sehen sie uns gemeinsam an: den Garden des Elterlichen Hauses in Oldenburg, das Geschäftshaus der Eltern, den Vater, die Mutter, einen jüngeren Bruder, eine hübsche Schwester, einen Schäferhund. So sitzen wir eine Weile in sentimentaler Stimmung zusammen, wie das so ist, wenn Soldaten von zu Hause erzählen.

Im Morgengrauen desselben Tages wecken mich Granateinschläge in der Nähe. Ich kenne diese verflixte russische Pak. Nachts wird sie auf dem gegenüberliegenden Hang an einem immer wieder anderen Platz gut getarnt in Stellung gebracht, um bei Tag genau sieben Schuss auf ein sorgfältig ausgemachtes Ziel abzufeuern. Diesmal hat der Russe den Bunker Meinecke bei Büchsenlicht ins Fadenkreuz genommen. Mindestens zwei Granaten schlagen zwischen Balkenauflage und Erdboden in den Unterstand ein und töten die gesamte Besatzung mit Ausnahme des einen Mannes, der gerade im MG-Stand auf Posten ist. Versuche dieses Geschütz auszuschalten sind bisher fehlgeschlagen und haben auch in Zukunft keinen Erfolg.

In der Dämmerung des Neujahrsmorgens 1943 ist mein Bunker an der Reihe, jedoch ist der Zeitpunkt zum Glück schlecht gewählt. Die obligatorischen sieben Schuss treffen die seitlich überstehenden Balken, die das Erdreich über den Stufen neben den Unterstand halten, oder gehen darüber. Immerhin wird die Balkenanlage arg durcheinander gerüttelt, und gibt wie ein Schüttelsieb viel Erde nach unten frei. Der Dreck liegt haufenweise auf den obersten Pritschen, beiden Bänken, dem Tisch und Boden. Die Fensterscheibe in der Größe eines Aktenblattes, ein besonderer Vorzug dieses Bunkers, ist zersplittert, die Türe aus den Angeln gerissen. Es ist ungemütlich hier geworden. Die Kälte von – 20° Grad Celsius dringt ungehindert ein.

Einige Tage danach werden spät an einem Nachmittag die sieben Schuss auf mich abgegeben, als ich in Erledigung eines Auftrages durch die Gräben eile. Welch ein Aufwand wegen eines Mannes – offenbar ist das Soll des Tages noch nicht erfüllt und ein besseres Ziel nicht ersichtlich. Die Schüsse liegen jedoch ein wenig zu kurz oder zu weit. Erfolg würde ihnen nur beschieden sein, wenn sie genau die Grabenkante träfen. Das jedoch ist bei einer solchen Entfernung und einem derartigen Schusswinkel sehr schwer.

Damals bin ich viel unterwegs gewesen, um mir das gesamte Grabensystem, seine Kampfstände, die Besonderheiten des Geländes einzuprägen und die Grabenbesatzung kennen zu lernen. Dabei begegnete ich immer wieder Hauptmann Vincon, Eichenlaubträger, Kommandeur des I. Bataillons des IR460, der seit 1945 im Schwarzwald vermisst wird. Unermüdlich ist der stets freundliche und aktive Bataillonsführer mit seinem Kartenbrett unterwegs, und niemals wieder habe ich eine so gut ausgebaute und so ausgeklügelte Stellung wie in seinem Abschnitt erlebt.

Die Ressa-Stellung ist wie der gesamte Mittelabschnitt in den Monaten bis Anfang März 1943, eine verhältnismäßige ruhige Front. Daran ändert nichts, dass ich in wenigen Wochen von meinen beiden Gruppen, also von zwei Unteroffizieren und 10 Mann – eine dritte Gruppe liegt weiter zurück in Reserve – beide Unterführer und fünf Mann verliere. Die beiden Unteroffiziere sind die letzten friedensmäßig ausgebildeten Soldaten in den Gruppen gewesen.

Unteroffizier Meinecke und vier Mann sind ja durch den schon erwähnten Feuerüberfall auf ihren Bunker gefallen. Unteroffizier Krieger, ein wortkarger, zuverlässiger, schwäbischer Landwirt, erhält einen Kopfschuss, als ihn auf dem Wege zum Divisionsstab beim Verlassen des Grabens eine Maschinengewehrgarbe erwischt; er ist auf der Stelle tot.

Aus seinem Trupp wird sodann ein 19 oder 20 Jahre alter Gefreiter, Bäckergeselle mit mittlerer Reife, der einmal die Konditorei seines kinderlos verheirateten Onkels in Konstanz übernehmen soll, durch einen Kopfstreifschuss schwer verwundet, während er nach Einbruch der Dunkelheit den eigenen Graben vor einem russischen Späh- oder Stoßtrupp im Vorfeld sicherte. In böser Vorahnung hatte er im Verlauf des Unglückstages – ganz entgegen seinen sonstigen Gewohnheiten – wiederholt geäußert das Gefühl zu haben, heute einen Bauchschuss zu bekommen.
Dr. Rossa

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