Gegen 05:00 Uhr am Morgen des 22. Juni 1944 mache ich die letzte Runde meiner nächtlichen Grabenstreife, von Posten zu Posten gehen, bis vor zum Horchposten in der Steppe. Langsam graut der Morgen, brandrot steigt die Sonne am östlichen Horizont herauf.
Allmählich ist der Zeiger der Uhr auf die siebente Morgenstunde gerückt. Da, mit wachen Augen fährt man aus seinen Träumereien. Ein dumpfer Abschuss, man kennt dies schon dem Gehör nach: ein schwerer Brocken! Es kommt auch schon heulend und zischend heran, kurz vor dem Graben fast senkrecht, kommt die schwere Granate herunter, dann eine furchtbare Detonation. Merklich zittert die Grabenwand, stinkender schwarzer Qualm und nach Pulver riechende Luft; glühende Eisensplitter surren durch die Luft; Dreck und Eisenteile überschütten den Graben. Fest drücken sich die Männer an die Grubenwand, Schutz suchend vor dieser tödlichen Gefahr.
Jetzt bricht die Hölle los. Der Abschnitt ist längst alarmiert; wir wissen was jetzt kommt. Aus allen Rohren trommelt der Russe auf unsere Stellung. Unaufhörlich heulen und pfeifen sie heran, die vernichteten Granaten. Abschuss und Einschlag vermischen sich zu einem unentwirrbaren Dröhnen, Zäher, beißender schwarzer Pulverqualm liegt über den Graben und Gelände, nur unterbrochen durch die Stichflammen berstender Geschosse, Trommelfeuer.
So wie es unsere Väter zuvor schon an der Somme, in Flandern, und am Fort Douaumont in Verdun im ersten Weltkrieg erlebt haben: Granaten und nochmals Granaten wühlen sich in die Erde ein, Bäume knicken wie Streichhölzer, Fontänen von Eisen, Stahl und Erde decken fast alles Leben zu. Immer neue Lagen und Salven überschütten unseren Abschnitt Dazwischen tönt der grässliche Schrei: „Sanitäter!“
Rechts neben mir ist eben ein Kampfstand eingedrückt worden. Spaten her! Ungeachtet des wahnsinnigen Feuers setzten zwei Kameraden ihr Leben ein, um so schnell wie möglich die verschütteten Kameraden auszugraben. Schon ziehen sie den ersten heraus, mit Dreck überzogen und fahlem Gesicht. Ein blutroter Faden läuft aus seinem Mund und dem linken Ohr. Es war umsonst.
Das Donnern und Heulen in der Luft, die grauenhafte Melodie des Krieges, wächst immer stärker an. Dem Jüngsten meiner Gruppe versagen die Nerven, er weint und schreit laut nach seiner Mutter; er will den Graben verlassen und nach rückwärts laufen, ich ziehe ihn im letzten Augenblick zurück in den Graben, tröste ihn, beruhige ihn, und sein Nervenschock ist bald wieder vorbei. Sein dankbares Lächeln zeigt dies.
Ungeachtet dieser Einzelschicksale hämmert das rasende Trommelfeuer weiter und weiter. Es ist ein wahnsinniger, fast gleichmäßiger Rhythmus von Abschuss, Einschlag und Explosion. Unzählige Geschosse jagen heran, reißen neue Trichter in das schon aufgewühlte Erdreich. Dazwischen das Gemisch von empor geschleuderter Erde und Rauch der platzenden Geschosse. Und in diesem Höllenlärm liegen wir Infanteristen zusammengeduckt im Grabenabschnitt. Wir müssen da warten und ausharren, bis der erlösende feindliche Angriff kommt, der jeden einzelnen von uns zum Kampf Mann gegen Mann ruft.
Wie lange wird es noch dauern? Zwei Stunden trommelt der Iwan schon. Plötzlich wie abgeschnitten, verlegt er das Feuer weiter zurück. Wie eine Erlösung pflanzt sich der gellende Ruf von Gruppe zu Gruppe: „Sie kommen!“
Jeder stürzt an seinen befohlenen Platz. Soweit das Auge über den Grabenrand blicken kann, sieht man sie ankommen, die oliv-braunen Gestalten russischer Infanterie. Jetzt heißt es: Kolben an die Backe, Ziel, Druckpunkt, alles in Sekunden!
Die MG-Schützen bringen kaum noch den Zeigefinger vom Abzug. Sie hacken hinein in den immer näher heranrückenden Feind, und wütend schlagen die MG-Garben hinein in die Reihen, der Stürmenden und fegen sie weg. Aber schon kommt die zweite Welle, und noch eine dahinter. Es scheint nicht mehr aufzuhören. Die angreifenden Sowjetsoldaten kommen unaufhaltsam immer näher heran. Wir jagen Schuss auf Schuss in die dichten Haufen. Mit teuflischer Genauigkeit schlägt das rechts flankierte schwere MG eines Nürnberger Unteroffiziers hinein in die vorwärts stürmenden Russen.
Links beim zweiten Zug sind sie schon – trotz schwerer Verluste – in den Graben eingebrochen. Ich befehle zwei Mann zur Abschirmung an die Zuggrenze, suche selbst Verbindung mit dem zweiten Zug zu bekommen. Da kommen mir auch schon zwei Russen, wild um sich schießend, im Graben entgegen. Deckung, Handgranate abgezogen, über die Grabenecke geworfen, Körper an die Grabenwand gedrückt, Detonation, Aufschrei – Soldatenglück und Soldatenlos!
Unsere Abwehrfront ist in Folge der starken Verluste zum Teil schon durchbrochen, und noch immer strömen neue Massen mit lautem „Urrääh“ heran. Blutüberströmt, mit erstarrtem Körper liegt mein tapferer MG Schütze 1 neben seinem MG, die rechte Hand noch an der Abzugsvorrichtung. Pflichtbewusst wie er immer war.
Von vorne werden wir jetzt im Nahkampf angegriffen: alles eine wimmelnde, durcheinander wirbelnde Masse. Wir werfen Handgranaten auf kurze Entfernung. Ich sehe zwei Kameraden der Nachbargruppe schon zwischen den Russen – ein alter Obergefreiter ist dabei. Sein Pistolenschuss noch im Fallen durch den Bauch des russischen Angreifers gejagt, rettet sein Leben. Der Russe ist zusammengebrochen.
Nachdem der Feuerriegel der feindlichen Artillerie ins Hintergelände abgezogen ist, kommt für uns der Befehl: „Kämpfend absetzen aus dem Graben bis zur ersten Auffangstellung!“ Die wenigen Überlebenden unserer Kompanie erreichen zum Teil verwundet und drecküberschmiert diesen Graben. Mit verzerrten, abgekämpften Gesichtern sind sie dem Inferno entronnen und formieren sich schon wieder zu einem Gegenstoß, der aber nichts mehr einbringt; den die eigenen Verluste und die Übermacht des Feindes ist zu groß.
Von diesem 22. Juni 1944 an – für jeden der dieser Hölle entronnen ist, wird dieser Tag unvergessen bleiben – drangen fast ohne Unterbrechung die sowjetischen Armeen immer weiter westwärts vor, bis an die Grenzen unseres deutschen Vaterlandes.
Kurt Breuning, ehemaliger Unteroffizier im Grenadierregiment 470