Der Schwerpunkt der Auseinandersetzung an der Ostfront liegt in den Monaten um die Jahreswende 1942 auf 1943 bei Stalingrad.
Diese Schlacht im Süden hat ihre Fernwirkung auch für unser Grenadierregiment 480 in der Ressa-Stellung. Nämlich: Große Abschnitte für die Einheit, also eine dünn besetzte Kampflinie, was für den einzelnen erhöhte Aufmerksamkeit bedeutet. Unter diesem Gesichtspunkt ist auch der Befehl zu verstehen, nur auf lohnende Ziele zu schießen, also keine Munition zu vergeuden.
Nachts ziehen in der MG-Kompanie, in der ich einen Zug führe, Doppelposten auf. Bei einer Kälte von – 20 Grad erfolgt jede Stunde eine Ablösung, so dass jeder, einschließlich der Unteroffiziere, alle zwei Stunden im MG – Stand Posten steht. Tagsüber ist jeder, da nun der Unteroffizier nicht mit eingeteilt wird, alle fünf Stunden an der Reihe. Nach der Rückkehr von der Wache in den mehr oder weniger warmen Unterstand werden jedes Mal die Läuse aufsässig, die zuvor dezimiert werden müssen, wenn man einigermaßen Ruhe haben will.
So geht es Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat. Eine sehr große, körperliche Strapaze. Als eines Tages in einer Scheune der Film „Der Florentiner Hut“ aufgeführt wird, zu dem ich alle entbehrlichen Kräfte entsenden kann, ist niemand bereit seinen Schlaf dafür zu opfern. Der Film ist in unserer Lage übrigens seelisch schwer zu verkraften. Er zeigt einen jungen Mann auf einer Reise durch das sonnige Italien, unter anderem lässt er sich in der Hängematte im Garden eines Luxushotels bei schönstem Sonnenschein von einem bildhübschen Mädchen schaukeln. Welch ein Gegensatz zu unserem Dasein!
Im Graben heißt es in der Aufmerksamkeit nicht nachlassen. Wer nicht sorgfältig getarnt über den Grabenrand lugt, der muss in den nächsten Sekunden mit einem Kopfschuss rechnen, denn die Scharfschützen von der anderen Seite verstehen ihr Geschäft ausgezeichnet.
Ich erinnere mich an einen Oberleutnant, im Zivilberuf Journalist an einer Saarländischen Zeitung, der sich wegen Arbeiten an den Stacheldrahtsperren im Vorfeld bei uns einrichten musste. Er meinte, es wegen der großen Entfernung zum russischen Graben wagen zu können, des besseren Überblicks wegen auf den Grabenrand zu steigen, und ist nicht davon zu Überzeugen, das dass den fast sicheren Tot für ihn bedeutet. Dort wo sechs, sieben dicke Bäume am Grabenrand stehen, riskiert er es. Schon nach wenigen Sekunden pfeifen ihm in schneller Folge Gewehrkugeln präzise um die Ohren. Durch einen Sprung zurück in den Graben rettet er sich, froh mit dem Leben davon gekommen zu sein.
Als besonders gefährdet wird unser Frontabschnitt an der Ressa dort angesehen, wo sich ein Bach in die von uns besetzten Uferhöhe tief eingesägt hat und in die Ressa ergießt, die hier unmittelbar vor unserem Graben entlang fließt. Der Einblick in dieses Seitentälchen ist den Russen durch eine mehrere Meter hohe Blende aus Fichtenzweigen verwehrt. Er begnügt sich nun damit, von Zeit zu Zeit Maschinengewehrgarben in diese grüne Wand zu jagen.
Auf den Höhen links und rechts des Ausgangs dieses Tales sind Maschinengewehrnester eingerichtet. Auf der linken Seite des Baches schiebt sich die Anhöhe wie ein Zeigefinger etwa siebzig Meter weit in Flussaue vor und zwingt die Ressa zur russischen Seite hinüber.
Auf dieser Zeigerfingerhöhe ist von uns ein Stichgraben vorgetrieben, in dessen Spitze ein einfacher Gewehrposten und auf dem halben Wege nach dort ein Maschinengewehr in Stellung liegen.
In dieser MG-Stellung verweile ich auf meinen nächtlichen Grabenstreifen jedes Mal. Ich liebe diesen Ausblick von dem acht bis zehn Meter hohen Steilhang über der Ressa. In mondhellen Nächten schaut man in eine breite, verschneite Flussaue weit hinein, an sich von beiden Seiten bewaldete sanfte Anhöhe heran schieben. Eine zauberhafte schlichte Winterlandschaft und welch ein Schussfeld in der Flanke vor dem eigenem Graben!
In der Ferne schießt ein russisches Maschinengewehr. Nicht weit steigt zischend eine deutsche Leuchtkugel auf und überflutet die Schneefläche für viele Sekunden mit hellgelbem Licht. Nichts regt sich, nichts Verdächtiges ist zu erkennen.
Unser Maschinengewehr hat hier oben noch keinen Schuss abgegeben. Die Gewehrbedienung hat den Auftrag nur im Falle äußerster Gefahr zu schießen; die MG-Stellung soll unentdeckt bleiben. Die Männer an diesem „Schweige-MG“, so wird es offiziell bezeichnet, sind zuverlässig.
Ich gehe zum Hauptgraben zurück, den ich dort verlasse, wo er an der Böschung des Seitentälchens ausläuft. Den Rest des Hanges nehme ich im Laufschritt, um unter Ausnutzung des Schwunges an der anderen Seite gleichsam hinauf getragen zu werden, und sobald wie möglich in der Fortsetzung des Grabens zu verschwinden.
Hier steht das Gegenstück zum Schweige-MG, das zweite Maschinengewehr zur Sicherung des Ausgangs des Seitentälchens. Es hat Schießauftrag jedoch noch keine kritische Situation zu bewältigen brauchen. Ihm steht ein Tages- und Nachtkampfstand zur Verfügung, die beide etwa 20 bis 30 Meter auseinander liegen. Jeweils in der Morgen- und der Abenddämmerung wechselt das Maschinengewehr seine Stellung. Das alles dient dem Zwecke, es dem Russen zu erschweren, die Maschinengewehrstellungen sicher auszumachen.
Eine Mannschaft die dieses Gewehr bedient hat ihre Eigenheiten. Sie setzt sich aus einem friedensmäßig ausgebildeten Unteroffizier, einem Schwaben, Maurer von Beruf, der die Feldzüge unserer Division von Anfang an mitgemacht hat, und Kriegsfreiwilligen aus Mecklenburg im Alter von achtzehn, neunzehn, und zwanzig Jahren zusammen, die mir mit ihren blauen Augen, roten Backen und strohblonden Haaren wie Brüder vorkommen. Sie haben im Krieg noch nicht viel erlebt, finden den Stellungskrieg todlangweilig, haben sich unter Soldat sein etwas anderes vorgestellt, wünschen sich den Einsatz bei einem Späh- und Stoßtruppunternehmen. Jedenfalls reden sie alle so, hadern deshalb mit ihren hoch dekorierten Gruppenführern, dessen Schilderung vom Vormarsch und winterlichen Rückzug aus der Stellung bei Serpuchow sie als Historie abtun.
Eines Morgens ist es schon fast hell, komme ich an dem Nachtkampfstand vorbei. Gerade beginnt der Gruppenführer in den Tageskampfstand hinüber zu wechseln. Im Vorbeigehen spreche ich von Beeilung. Die Munitionskästen werden hinüber geschafft. Das Maschinengewehr wird eingezogen.
Als ein junger Mecklenburger damit unterwegs ist, und der Unteroffizier mit dem Handgranaten folgen will, wirft dieser noch einen letzten Blick über den Grabenrand und sieht zu seinem Entsetzen einige Russen in Schneemäntel und Kapuzen die steile Böschung behebend herauf kriechen. Er wirft ihnen blitzschnell ein, zwei, drei Handgranaten vor die Gesichter und feuert dann den gesamten Handgranatenbestand, an die vierzig Stiel- und Eierhandgranaten Stück für Stück in schneller Folge im Halbkreis um den Kampfstand hinaus. Dabei brüllt er unaufhörlich „MG schieß, MG schieß…“ und meint damit das Schweige-MG auf der Zeigefinger-Höhe.
Und dann bricht eben dieses Maschinengewehr sein monatelanges Schweigen, richtet sich aus einer hervorragenden Flankenstellung gegen die den Hang hinauf stürmenden und über die zugefrorene Ressa nachdrängenden Russen und feuert pausenlos.
Die russischen Soldaten sind dem Kugelhagel schutzlos ausgeliefert. Die vom Eis des Flusses abprallenden Geschosse reisen als Querschläger furchtbare Wunden in ihre Leiber. Einige wenden sich zur Flucht, jedoch haben sie keine Chance. Das Ganze ist das Werk von wenig mehr als einer Minute.
Ich selbst befinde mich im Hauptkampfgraben auf dem Weg zu meinem Bunker und renne zu dem pausenlos hämmerten Schweige-MG. Ein blutjunger Soldat, erst vor wenigen Monaten eingezogen, bedient es. Fünfzehn bis zwanzig Russen liegen leblos wie auf einem Leichentuch.
Der Schnee an der Böschung vor dem Nachtkampfstand ist vom Pulverschmauch der detonierten Handgranaten geschwärzt. Der Maschinengewehrschütze macht mich auf einen Russen aufmerksam, der fast unter ihm unmittelbar am Steilhang mit ausgebreiteten Armen und Beinen in Richtung zur russischen Stellung bäuchlings im Schnee liegt, und bemerkt dazu: „Der bewegt sich nicht mehr.“
Nach Einbruch der Dunkelheit werden die Toten geholt: Sibirier von kleinem Wuchs und drahtig. Jedoch der Tote am Steilhang ist nicht mehr da; er hat sich auf und davon gemacht! Dieses Verhalten gibt ein anschauliches Beispiel dafür, zu welchen Leistungen der russische Soldat fähig ist. Bei zeitweise – 15 bis – 20 Grad Kälte den ganzen Tag, wenige Meter von der Mündung eines feindlichen Maschinengewehrs entfernt, regungslos im Schnee zu liegen, den Toten Mann zu markieren und dann nach Sonnenuntergang zu verschwinden, ist eine bewunderungswürdige Leistung.
Das zweifellos gründlich vorbereitete Stoßtruppunternehmen mit der Auswahl des günstigsten Angriffszeitpunktes, als sich nämlich das deutsche MG im Stellungswechsel von einem Kampfstand in den anderen befindet, ist letztlich an der Umsicht eines kriegserfahrenen deutschen Unteroffizier und daran gescheitert, dass die Russen das Schweige-MG nicht auszumachen und somit auch nicht auszuschalten vermochten.
Die wackeren Mecklenburger sind kleinlaut geworden. Sie beginnen zu begreifen, was sie an ihrem Korporal haben, und das es auf nie erlahmende Wachsamkeit und entschlossenes Handeln im entscheidenden Moment ankommt.
Dr. E. Rossa