Unsere Kreidekuppe (siehe „Als VB beim Angriff über die Aisne“) über der Aisne hat von einem Tag auf den anderen ihr Gesicht von Grund auf gewandelt.
Wo man gestern noch durch mühsames Kriechen auf dem Boden der Feindsicht entzog, da ragen heute die langen Rohre einer schweren Flakbatterie steil in die Höhe. Unten im Tal hat sich ein riesiges Heerlager aufgetan, vier oder fünf unübersehbare Kolonnen stehen nebeneinander und warten auf den Übergang. Fahrzeug um Fahrzeug rollt auf den beiden Behelfsbrücken über die Aisne und den Kanal – dort wo wir im Feuer und Pulverdampf in Schlauchbooten hinüber ruderten. War das wahrhaftig erst gestern? Liegt nicht ein halbes Leben dazwischen? Dort drüben erstürmten wir die Höhen, dort standen Himmel und Hölle offen. Hier liegen die Felder leer und still wie zuvor, nur die Straßen sind erfüllt von endlosen Kolonnen, die nach Süden rollen.
Wir haben die Beobachtungsstelle abgebaut und machen uns fertig, um nach Thorin-Ferme zurückzureiten, wo sich die Abteilung sammelt. Plötzlich beginnt es rings umher dröhnend zu Hämmern und Schlagen, wie eine riesige Hammerschmiede. Unsere Pferde recken die Hälse und spitzen die Ohren bei diesem urgewaltigen Getöse. Die Rohre der Flakbatterien gleiten vor und zurück, jedes Mal mit einen flammenden Feuerschweif gekrönt. In das Bellen der schweren und leichten Flak mischt sich das hastige Rattern der Maschinengewehre bei den rastenden Kolonnen im Aisne-Grund. Denn ihnen gilt der Besuch der drei französischen Flieger die wir in tollen Windungen über uns kreisen sehen. Der Himmel ist übersät mit kleinen Wölkchen die allesamt den Fliegern gefährlich nahe kommen. Dann lässt sich einer nach dem anderen senkrecht in die Tiefe fallen, fängt sich auf und kreist in anderer Richtung weiter. Sie lassen sich so schnell nicht vertreiben, es sind mutige Gesellen, der Tanz geht noch eine ganze Weile weiter.
Wir sehen dem Schauspiel in fieberhafter Spannung zu, bis wir die Drei aus den Augen verlieren und das Höllenkonzert neben uns verstummt. Nach kurzer Zeit steigt aus dem Tal eine dunkle Rauchwolke senkrecht in die Höhe, aber wir können nicht unterscheiden ob sie von einer Bombe oder einem abgeschossenen Flugzeug herrührt.
An diesem Abend des 10. Juni marschieren wir mit der Batterie im Abteilungsverband Richtung Rethel. Dort wird noch geschossen. Vielleicht braucht man uns um den erbitterten Widerstand des Gegners zu brechen. Auch die Behelfsbrücke gegenüber Acy-Romance scheint verstopft zu sein, wir kommen nicht weiter und beziehen für diese Nacht ein Biwak am Rande des Aisnetals.
Während wir uns in Gras strecken und zum Schutz gegen Tau und Kälte die Mäntel über uns ziehen, hören wir in der Luft jenes fremdartige, hell surrende Motorengeräusch, das wir von den vergangenen Nächten her kennen. Scheinwerfer erstrahlen und tasten suchend den nächtlichen Himmel ab. Die Flugawehr beginnt zu hämmern, in steilen Bogen sprühen glühende Punkte hoch in die Dunkelheit. Über diesem schaurig-schönen Feuerwerk schläft man ein und nimmt die dramatischen Bilder des Tages mit hinüber ins Reich der Träume.
Am folgenden Tag überschreiten wir die Aisne und sehen links über den Bäumen die Dächer von Rethel. Während einer Stockung durchstöbern einige Männer der vor uns marschierenden Batterien einige verlassene Unterstände seitlich der Straße. Plötzlich erschallt lautes Gelächter: Da bringen sie einen französischen Soldaten, der schlaftrunken in das helle Tageslicht blinzelt und nun in fassungslosem Schreck die Augen aufreißt, als er sich mitten unter Deutschen sieht und weit und breit von seinen Kameraden keine Spur mehr entdeckt. Man führt ihn zur Feldküche und gibt ihm einen warmen Kaffee zu trinken, damit er richtig wach wird. Nun erscheint ein hilfloses Lächeln auf seinem erschrockenen Kindergesicht.
In Acy-Romance tränken wir die Pferde. Der Ort sieht übel aus und trägt die Spuren harter Kämpfe. Von ganzen Häuserreihen sind nur noch dampfende Trümmer übrig, die Drähte der Lichtleitungen hängen wirr auf die Straße, man tritt über verkohlte Balken, Glasscherben und Ziegel.
Kurz nach dem Ort beziehen wir einen Bereitstellungsplatz. Kaum haben wir die Geschütze und Fahrzeuge längs einer Hecke aufgestellt und getarnt kommt ein neuer Befehl: Sofort Marschbereitschaft melden! Weiter geht der Marsch, vorbei an lichterloh brennenden Feldscheunen und Strohhaufen, an zersplitterten Bäumen, Granattrichtern und Feldstellungen der französischen Infanterie. Was wir eigentlich gespielt? Wo steht der Gegner, was bleibt für uns noch zu tun? Niemand vermag uns darüber Auskunft zu geben. Wie hat man doch im Frieden bei allen Übungen und Märschen stets genau Bescheid gewusst, über die Lage, die Abschnittsgrenzen, vorderste Linie und eigene Absicht. In diesem Krieg jedoch ändert sich die Lage ja von Stunde zu Stunde, der Augenblick diktiert das Gesetz des Handelns.
Wir gelangen auf eine große Straße die von Rethel nach Südosten führt. Ein toller Verkehr spielt sich hier ab. Meldefahrer jagen an uns vorbei, Panzerjäger fahren nach vorne, Infanterie rastet am Straßenrand und wieder unzählige Kraftfahrzeuge aller Art. Dazwischen Panzerkampfwagen mit rasselnden Ketten. Während wir uns einbilden in vorderster Linie zu sein, müssen wir zusehen wie uns die Nachschubkolonnen der schnellen Truppen überholen.
Vor der Ortschaft Biermes ist als Sperre eine dicke Mauer über die Straße gebaut, wir fahren im Bogen um das Hindernis. Fast alle Häuser weisen Geschosseinschläge auf, keine Fensterscheibe ist ganz. Die gegnerischen Nachhuten haben die Dörfer zäh verteidigt, auch am Ortsausgang sehen wir die Reste einer Sperre.
Da und dort liegen im Straßengraben hinter einer flüchtig errichteten Brustwehr zertrümmerte Gewehre, Munition, Gasmasken, Konservendosen, hier ein zerschossenes Panzerabwehrgeschütz; in seinem Rohr steckt noch ein Geschoss das sein Ziel nicht erreichte.
Während der Rast vor Menil-Anneles wird der Batterieoffizier mit einem Zug der Geschützstaffel an den Anfang der Marschgruppe befohlen. Man rechnet mit einem Gegenstoß feindlicher Panzer und setzt die beiden Geschütze zu ihrer Bekämpfung ein. Jetzt können unsere Kanoniere zeigen, was sie gelernt haben.
Wir marschieren weiter in der glühenden Nachmittagssonne. Ein heißer Wind streicht über die flachen Höhen der Champagne. Brennender Durst trocknet die Kehle aus, der Magen knurrt. Aber die Feldküche ist noch weit zurück und wer weiß ob wir sie heute noch sehen werden. Die Abteilung bekommt den Befehl bei der Ortschaft Pauvres ein Biwak zu beziehen. Eine Batterie geht in Stellung und sichert den Bereitstellungsraum. Demnach ist der Gegner doch nicht so weit.
Nach einer halben Stunde ist der Befehl überholt, der Marsch wird fortgesetzt. Wir biegen von Pauvres von der Hauptstraße nach Süden ab auf staubige Straßen und Wege und gehen nach einiger Zeit bei dem Dorf Dricourt zur Rast über. Aber hier tut sich ein unwahrscheinliches Bild vor unseren staunenden Augen auf: wie im tiefsten Frieden halten auf freiem Feld ohne jegliche Tarnung zahlreiche motorisierte Kolonnen. Irgendwo in der Nähe schießt noch eine Batterie. Vor uns jedoch, über einen Waldstreifen weg, sehen wir inmitten einer weiten Ebene ein brennendes Dorf. An allen Ecken und Enden schlagen hohe Flammen empor, eine ungeheure schwarze Rauchwolke steht darüber am Himmel. Kein Mensch weiß, was hier los ist. Wir lassen abspannen und schicken die Pferde ins Dorf zum Tränken. Der Batterieoffizier ist mit dem 1. Zug wieder zurück, er kam nicht ins Gefecht.
Da erscheint plötzlich der Abteilungs-Wagen der Kommandeur steigt aus und befiehlt den sofortigen Einsatz der Batterie. Feuerstellung hier, B-Stelle vor dem Wald. Vorne bei Machault wird schwer gekämpft (siehe: „Kampf der AA 260 um Machault“), unsere Panzer stoßen dort auf stärksten Widerstand.
Wir eilen ins Dorf, holen unsere Pferde zusammen, suchen am Ortsrand die Feuerstellung aus, sitzen auf und traben mit dem Batterietrupp vor durch den Wald bis zu dessen südlichem Rand. Dort richten wir die B-Stelle ein; unmittelbar vor uns liegt das brennende Machault. Nun sollen wir doch noch einmal schießen.
Da kommt ein neuer Befehl: „Machault ist genommen, die Batterie führt Stellungswechsel durch, hierher an den Waldrand.“ Dicht hinter der B-Stelle suchen wir eine neue Feuerstellung aus und warten auf die Geschütze. Während sie im Anmarsch sind, setzt schon wieder ein weiterer Befehl den letzten außer Kraft. „Batterie geht nicht in Stellung, Marsch wird fortgesetzt!“ Wir fahren mittags durch Machault. Heiße Glut schlägt uns entgegen, an Türen und Fensterrahmen züngeln die Flammen. Es knistert und prasselt im Gebälk, Feuer lodert hell auf zusammengestürzten Dächern. Die Brände fallen in rasender Gier über Scheunen und Schuppen her. Mit scharfem Knall zerspringen Dachziegel und Steine, zurückgelassene Munition des Gegners fliegt da und dort in die Luft. Freilaufende Hühner hetzten über verwüstete Höfe. Ein jämmerlich heulender Hund sitzt vor einem Haus, dessen Reste soeben krachend in sich zusammenfallen. In dem Ortsteil, den das Feuer verschont hat, sitzen in den Höfen französische Gefangene und verbinden ihre Verwundeten.
Kurz hinter dem Dorf fahren wir am Rand eines Wäldchens auf. Die Pferde stellen wir unter die Bäume, wo uns Strohlager, leere Flaschen und Speisereste verraten, dass in der vergangenen Nacht französische Truppen auf diesem Biwakplatz lagen. Einmal horchen wir überrascht auf: sind da nicht in der Ferne dumpfe Abschüsse zu hören? Und tatsächlich, dort vor uns, wo in zahlreichen Waldstücken weitere Einheiten zur Ruhe übergegangen sind, blitzen in der Dämmerung die ersten Einschläge auf. Eine Zeitlang tastet der Gegner mit seinen Granaten die Gegend ab. Ob er uns wohl auch erwischen wird?
In der Zwischenzeit ist es dunkel geworden. Glutroter Widerschein des Brandes steht drüben am Himmel. Plötzlich ist für einen Augenblick die ganze Landschaft taghell erleuchtet und Sekunden später dröhnt von Machault her eine ungeheure Detonation unter deren vernichtenden Wucht die Erde erzittert. Dann wird es ruhig über der nächtlichen Front.
An den nächsten beiden Tagen kommen wir nicht sehr weit. Wir liegen auf Biwakplätzen herum und müssen warten, bis die Wege frei sind. Manchmal können wir mehrere Vormarschstraßen zugleich überblicken und bewundern dieses einzigartige Schauspiel, wie da ohne Aufhören Tag für Tag und Nacht für Nacht eine Kolonne nach der anderen sich vorwärts schiebt, zuweilen in Stockungen verharrend, doch immer wieder in Bewegung und niemals abreißend.
Walter Schmidt, Leutnant (I. Abteilung / Artillerieregiment 260)