Am 22. Juni 1944 begann das letzte Kapitel für uns deutsche Soldaten. Hunderte Flugzeuge waren am Himmel, darunter nicht eine deutsche Maschine. Die Artillerie pflügte den letzten Meter Boden um. Der russischen Übermacht war kein Kraut gewachsen. Es begann ein Gerenne nach dem Muster: „Rette sich, wer kann“.
An der Beresina gab es einen großen Stau. Es war nur eine Ponton-Brücke vorhanden. Ich machte mich mit Kameraden durch den Wald zur Brücke auf. Die Brücke konnte nur von leichten Fahrzeugen befahren werden. Zu Fuß überquerte ich den Fluss. Mitten auf der Brücke sprang ich in ein Ponton und habe aus der Beresina meinen Durst gelöscht. Ich merkte erst, als ich meinen Durst gelöscht hatte, wie das Wasser gestunken hatte. Auf der Westseite der Beresina ging es so steil hoch wie auf der anderen Seite runter. Auf halber Höhe war ein Haus. Bei dem Haus war ein Brunnen, um den sich eine große Menschenmenge scharte. Wie ich an den Brunnen kam, weiß ich nicht. Auf jeden Fall konnte ich meinen Durst löschen und mein Kochgeschirr mit Wasser füllen. Das sah ein Soldat, der von Beresina hoch kam. Dieser kam auf mich zu und bat um einen Schluck Wasser. Er war kurz vor einem Hitzschlag. Mit diesem Soldat war ich befreundet bis zu seinem Tod 2002. Oft hörte ich von ihm: „Dir habe ich mein Leben zu verdanken.“ Es war der Hauptfeldwebel Fritz Dungel von der 11. Kompanie 119, der spätere Lagerkommandant von Lusa und Kirow II.
Am 5. Juli erreichten wir die Rollbahn Minsk–Gomel. Die Rollbahn war von russischen Panzern gesperrt. Ein Durchkommen bei Tag war nicht möglich, Jeder, der es versuchte, musste sein Leben lassen. Um 10 Uhr hielt ein General eine Ansprache. Er sagte: „Um 11 Uhr probieren wir gemeinsam den letzten Ausbruch. Wer verwundet wird, muss auf die Gnade des Feindes hoffen.“
Der Ausbruch begann also um 11 Uhr mit einem verzweifelten Gebrüll. Dazwischen das Geratter der russischen Maschinengewehre und die Einschläge der Panzer- und Artilleriegranaten. Nach kurzer Zeit war das Feld übersät mit um Hilfe rufenden Verletzten. Um 23.15 Uhr erwischte es auch mich. Das ganze Feld wurde erhellt vom Feuer brennender russischer Panzer. Verwundet lag ich am Boden. Um Hilfe rufen nutzte nichts, jeder rannte um sein eigenes Leben. Die russischen Panzer fuhren davon. Unheimliche Stille kehrte ein. Man hörte nur noch das Jammern der Verwundeten und Sterbenden.
Im Licht der brennenden Panzer sah ich ein Pferdegespann, das über die Rollbahn fuhr. Als sie auf meiner Höhe waren, rief ich um Hilfe und sie hielten tatsächlich an und fragten nach meiner Verwundung. Zwei Sanitäter kamen mir zu Hilfe, einer nahm gleich eine Schere und schnitt an Kittel und Hemd den rechten Ärmel heraus. Sie wollten mein Verbandspäckchen benutzen. Ich hatte nichts und sie hatten auch nichts mehr. Die Sanitäter trugen mich zum Fahrzeug und fuhren los. Es ging bei Nacht über Stock und Stein. Nach einiger Zeit hatte ich auf einmal wieder ein Gefühl in den Beinen. Ich bat einen Sanitäter, mir vom Fahrzeug zu helfen und mich zu führen. Er tat dies und nach kurzer Zeit konnte ich selber gehen.
Ich ging allein durch die Nacht und fand im Morgengrauen wieder Anschluss an einen Haufen der Ausbrecher der letzten Nacht. Sie standen auf der Ostseite eines Tales, im Talgrund verlief ein Bach. Das Westufer war so steil wie das Ostufer. Die Ersten machten sich auf den Weg, ich ging mit. Wir waren etwa 50 Meter vom Bach entfernt, da schrie jemand „Panzer!“ und wieder begann das Feuer von Panzerkanonen und MG. Wir rannten durch den Bach, welcher 0,75m tief war. Wir rannten auf der anderen Seite des Baches den Hang hoch, da begann auch schon dort das Feuer der Panzer. Nur wenige Soldaten erreichten die Ebene, die meisten fielen tot den Hang hinunter. Oben war ein Haferfeld, das aber keinen Schutz bot. Ich konnte nicht mehr gehen, weil meine Stiefel voll mit Wasser waren. Ich zog sie unter Beschuss der Panzer schnell aus und sprang in ein Roggenfeld. Dort sank ich zu Boden und blieb lange Zeit liegen. Das war der 6. Juli 1944 und von hier ab bis Dezember 1944 hatte ich keine Schuhe mehr.
Ab dem 6. Juli 1944 ging die Flucht nur bei Nacht und in kleinen Gruppen weiter. Am Tag mussten wir uns in den Wäldern verstecken. Zu essen hatten wir, was wir in den Wäldern finden konnten. Sonne und Sterne waren unser Kompass. Der Hunger war sehr groß, unsere Kräfte waren verbraucht.
Am 13. Juli gegen 3 Uhr standen wir an einem Waldesrand. In kurzer Entfernung standen 2 Wohnhäuser und 2 Scheunen. Wir beschlossen, dort gehen wir hin und um etwas zu Essen zu bitten. Unsere Hoffnung ging in Erfüllung, es waren keine Russen dort. Nach längerem Klopfen hörten wir das Weinen eines Kindes. Die Tür wurde geöffnet. Vor uns stand ein verzweifelter Mann. In der rechten Hand hielt er eine brennende Kerze, mit der linken führte er den weinenden Buben. Wir hatten zwei Sudetendeutsche in unserer Gruppe, die konnten mit dem Mann sprechen. Der Mann sagte: „Ihr könnt das ganze Haus auf den Kopf stellen, Ihr findet nichts zu essen. Ich konnte dem Buben auch nichts zu essen geben, deswegen weint er.“ Der Mann sagte uns ebenso, dass wir schon in Polen waren.
Wir zogen weiter Richtung Wald, dieser war sehr schmal. So kam es, dass wir gleich wieder am Waldrand waren. Jetzt sahen wir einen Hof, der zu 90% von Wald umgeben war. Wir gingen auf dem kürzesten Weg auf den Hof zu. Auf halber Strecke merkten wir, dass zwei Männer vor der Scheune standen und uns winkten. Es war kurz vor 3 Uhr. Wir waren 14 Soldaten, die meisten hatten Angst, dass dies eine Falle sei. Zuerst wollten wir umdrehen, aber nach kurzer Besprechung gingen wir weiter.
Es war ein alter und ein junger Mann. Hätte einer von ihnen ein Gewehr gehabt, wäre keiner von uns lebend davongekommen. Der alte Mann öffnete sofort das Scheunentor und forderte uns auf, hineinzugehen. Mit großer Sorge gingen wir hinein. Ich sagte: „Geht nach oben und beobachtet alle 4 Richtungen. Wenn irgendetwas passieren sollte, hauen wir in den Wald ab.“ Der alte Mann war in der Scheune und hat alles mitbekommen. Er verließ nun die Scheune und für uns begann eine bange Zeit des Wartens. Nichts passierte. Nach einer guten Stunde kam der alte Mann wieder zurück und forderte mich auf, mit ihm mitzukommen. Ich war der Jüngste und der einzige Verwundete von den 14 Soldaten. Zu meinen Kameraden sagte ich: „Bei Gefahr lasst mich nicht sitzen, nehmt mich mit.“
Der Alte nahm mich mit ins Wohnhaus. Beim Betreten bin ich erschrocken, soviel Armut hatte ich noch nie gesehen. Es war eine Hütte, die nicht einmal einen Holzboden hatte. Der Eingang war in der Mitte, links standen die Betten, rechts war die Wohnung. In der Ecke waren ein Tisch und eine Bank, bestehend aus je 4 Pfählen und 2 Brettern. Die Frau des alten Mannes hat mich aufgefordert, mich zu setzen. Sitzend sah ich mir die Hütte genauer an. In der Ecke stand ein kleines Kreuz, dieses hat mich sehr beeindruckt. Als ich meinen Kopf wieder von dem Kreuz weg drehte, sagte die Frau „Du bist romika“ – katholisch. Ich zeigte ihr mein Kreuz, welches an meiner Erkennungsmarke festgemacht und ein Geschenk meiner Mutter war. Meine Mutter hatte das Kreuz weihen lassen und mich gebeten, es immer bei mir zu tragen. Was sich nun abspielte, kann ich nie vergessen: Die Frau drehte sich immer auf der Stelle und schlug die Hände über den Kopf zusammen. Sie sagte immer dasselbe: Romanika – katholika – Kruzifix. Nun kam eine junge Frau hinzu, sie hatte drei kleine Kinder. Ihr erzählte die alte Frau, was sie gesehen hatte. Spontan ging die junge Frau auf mich zu und ich zeigte ihr mein Kreuz. Oft sehe ich diese Frau in Gedanken vor mir, wie sie mit gefalteten Händen den Kopf schüttelte. Wie es sich herausstellte, dachten die vier, ich wäre ein Priester. Ich verneinte natürlich, aber die 4 Personen begannen zu beten. Danach bekamen wir zu Essen, es war eine dicke gut schmeckende Kartoffelsuppe mit Fleisch. Das war das letzte Essen in Freiheit. Danach musste ich auf Geheiß des alten Herrn mich auf ein Bett legen. Die zwei Frauen haben mich dann gewaschen. Er machte für uns weiterhin den Wachdienst. Nach kurzer Zeit kam der alte Mann ins Zimmer. Er nahm mich mit, ging mit mir um die Hausecke und zeigte nordwestlich auf eine Waldlücke. Dort wurde gerade ein großer Transport deutscher Gefangener vorbei getrieben.
Der Alte konnte uns auch sagen, wo wir jetzt waren. Wir befanden uns in Polen, im Rayon Lyda. Es wurde nun langsam Abend und wir mussten ans Weitergehen denken. Wir haben uns beraten. Auf einmal mischten sich die beiden Polen ins Gespräch ein. Sie sagten, sie gehen ins nächste Dorf, dort gab es jeden Abend um 22 Uhr Nachrichten von der Roten Armee aus Moskau. Um 22.30 Uhr waren sie wieder zurück. Ihre Nachricht war für uns sehr schlimm: der Russe hatte schon vor zwei Tagen die Vororte von Warschau eingenommen und Leningrad war seit gestern befreit. Die deutschen Truppen zogen sich zurück.
Es war der 14. Juli.
Die Polen erklärten uns, dass der Weg nach Westen viel zu weit wäre. Wir sollten nach Norden gehen und Anschluss an die zurückgehenden Truppen aus Leningrad suchen. Wir machten uns für den weiten Marsch bereit. Die zwei Polen brachten die anderen Kameraden in die Kate und wir bedankten uns herzlich bei ihnen. Ich sehe den Abschied heute noch vor mir, die weinenden Frauen und die verzweifelten Männer. Was hat sie bewogen, dass sie ihr Leben wegen ein paar Unbekannten aufs Spiel setzten? Bei einer Entdeckung wären sie als Spione erschossen worden.
Wir kamen wieder an einen einzeln stehenden Bauernhof. Die Scheune und der Stall waren neu. Wir machten das Scheunentor auf und gingen hinein. Auf einmal kam ein Mann auf uns zur, unsere Sudetendeutschen konnten sich mit ihm unterhalten. Der Mann erzählte: „In nächster Nähe liegt auf freiem Feld ein großer Stützpunkt mit Infanterie und drei Panzern.“ Der Mann genehmigte uns, dass wir uns ganz oben im Heu verstecken könnten. Das Verstecken ging gut bis 2 Uhr, dann musste ein Kamerad seine Notdurft verrichten und verließ die Scheune. Zur gleichen Zeit überquerte ein verkrüppelter Mann den Hof, dieser verriet uns bei den Russen. Natürlich hatten wir nicht damit gerechnet. Um 8 Uhr wurde von allen vier Seiten geschossen. Wir hatten uns daraufhin ergeben und stellten uns mit erhobenen Armen in den Hof. Ich schaute bei einem meiner Kameraden auf die Uhr, es war 3.10 Uhr. Es war das letzte Mal für mehr als 4 Jahren. Was sich jetzt abspielte, war unglaublich. Die Männer untersuchten uns, eine Uhr war das Wichtigste. Als alle Taschen leer waren, kam das komplette Ausziehen. Wir wurden an die Stallmauer getrieben, hinter jedem stand ein russischer Soldat mit der MP im Anschlag. Ich stand ungefähr in der Mitte, links von mir war das Schreien am schlimmsten. Es waren neben mir alles ältere verheiratete Männer, jeder wartete nur auf das Kommando „Feuer“. Es blieb uns Gott sei Dank erspart. Nach ungefähr 5 Minuten wurden wir zurück zu unseren Kleidern getrieben. Für jeden lagen nur noch ein Hemd und eine Hose da, alles andere war weg. Ich selber hatte nur noch meine Hose und ein halbes Hemd.
Wir wurden abgeführt und kamen spät abends am Zuchthaus Nowo Grotek an. Wo dieser Ort lag, wissen wir nicht. Es war der 15. Juli 1944. Durch das Zuchthausareal floss ein kleines Bächlein, dort durften wir einmal am Tag trinken. Jeden zweiten Tag kamen ältere Frauen vom Ort, die Essensreste gesammelt hatten und diese uns brachten. Wenn es diese Engel nicht gegeben hätte, wären wir alle verhungert. Nach 14 Tagen war unter den alten eine junge Frau. Wir kamen aus unseren Zellen und hatten uns an der Zuchthausmauer aufgestellt. Auf einmal wurde es unter den Frauen laut, die junge Frau sprang an den russischen Posten vorbei und kam zu uns Gefangenen. Sie nahm mich in den Arm und streichelte mein Gesicht und fragte auf Deutsch: „Hast du sehr Schmerzen?“ Sie ging wieder zurück zu den anderen Frauen, die Posten waren wie versteinert. Mein Gedanke war, du bist doch noch ein Mensch.
Nach zwei Tagen ist die junge Frau wieder gekommen. Wir kamen aus dem Zuchthaus heraus und sie machte sich gleich auf den Weg zu uns. Doch diesmal ging das nicht so einfach. Ein russischer Wachmann sprang sie mit schussbereiter MP an und hinderte sie am Weitergehen. Doch die junge Frau schubste ihn zur Seite und ging einfach weiter. Da kam schon ein zweiter Posten angerannt. Mit ihm machte sie dasselbe und ging weiter auf mich zu. Sie sprach mich wieder mit dem Satz „Hast du arg Schmerzen?“ an. Diesmal schob sie mir ein Stück Brot in mein halbes Hemd. Darauf begann ein furchtbares Geschrei, die junge Frau war am lautesten. Während des Geschreis aß ich schnell das Brot, somit konnte es mir niemand mehr wegnehmen. Die junge Frau kam nie wieder. Unser Herrgott möge ihren Mut belohnen. Ich habe diese Frau nie vergessen. Unsere Zelle hatte eine Größe von 4 auf 2,20m. So waren wir froh, als wir nach 4 Wochen hier weg kamen.
Unser Ziel war ein großes Sammellager in Minsk. Die Wachmannschaft bestand aus russischen und 16 polnischen Soldaten. Die polnischen hatten alle deutsche Gewehre, sie mussten einfach mitgehen und mitmachen. Die Marschkolonne hatte sich schon am ersten Tag weit über einen Kilometer auseinander gezogen. Die Gefangenen hatten einfach keine Kraft mehr, ich selber ging immer in der Mitte des Zuges. Neben mir ging immer derselbe Wachmann, ein älterer Pole. Dieser sagte schon am ersten Tag: „Bleib immer bei mir.“ Und das tat ich auch. Er konnte mich mit seinem deutschen Gewehr nicht erschießen, da es keinen Verschluss hatte. Übernachtet hatten wir zweimal auf freiem Feld und einmal in einer großen Scheune. Die Scheune war 1,5m hoch belegt mir Kartoffeln, darauf schliefen wir. Uns wurde gesagt, die Kartoffen seien Bestände der Roten Armee. Wer etwas wegnimmt, wird erschossen. Trotzdem verschwanden viele Kartoffeln in unseren Mägen.
Am Morgen ging die Wanderschaft weiter. Ich war schnell wieder an der Seite meines Wachmannes, mein Freund und Opa. Von weiter Ferne sah man schon die Hochhäuser der Stadt Minsk. Der Kommandant kam auf einmal auf meinem Freund zugeritten und unterhielt sich mit ihm. Von der Unterhaltung der beiden verstand ich nur ein Wort „Genosse Stalin“. Als der Kommandant wieder weg geritten war, fragte mich der alte Herr, ob ich etwas verstanden hätte. Ich verneinte es. Dann erzählte er mir, dass ich keine Angst mehr haben soll, ich werde nicht mehr erschossen. Genosse Stalin hatte am 1. Mai 1944 einen Befehl erlassen, wonach Verwundete nicht mehr erschossen wurden. Gegen Mittag waren wir am Tor unseres neuen Lagers. Ich verabschiedete mich von meinem Freund. Der Pole war ein guter Mensch mit Herz.
Am Lagertor bekamen wir eine warme Hirsesuppe, der Lagerkoch versprach für den nächsten Morgen Brot. Doch es kam wieder anders. Russische Ärzte und Offiziere erschienen und sortierten Verwundete und Kranke aus. Es waren mit mir ca. zehn Kranke und wir wurden im Osten von Minsk in der Polizeikaserne untergebracht. Am zweiten Tag lief ein deutscher Arzt durch die Stallungen. Er fragte mich, seit wann ich hier wäre. Ich beantwortete dies und dann fragte er nach meiner Verwundung und nahm mich mit. Im Hof stand eine Baracke, diese hatte zwei Zimmer. In der Ambulanz standen zwei Pritschen. Er sagte „Setz dich darauf!“ und ging in den Nebenraum. Der Arzt kam wieder mit drei weiteren Kollegen, dies war der Chirurg Dr. X. Maier, Dr. Sattler, mein späterer Freund und Dr. Frenzel.
Die Untersuchung begann, ich musste mich hinlegen. Der Arm wurde in alle Richtungen gedreht, die Brüche gezählt. Ich konnte keinen Finger bewegen. Chirurg Dr. X. Maier fragte mich, seit wann ich in diesem Zustand wäre. Ich antworte, seit dem 5. Juli. Daraufhin sagte er zu Dr. Frenzel und zu Dr. Sattler: „Der wächst nie wieder zusammen. Wir nehmen den Arm ab, wir machen ihn in der Kugel raus. Wir haben jetzt noch 1 Narkose und 1 Binde.“ Ich schaute durch das Fenster. Auf einmal ging es mir durch den Kopf, dass dies mein Todesurteil wäre. Ich sprang unbemerkt von der Pritsche zur Tür. Dr. Frenzel schrie mir hinterher: „Bleib doch hier!“ Ich sagte: „Der Arm bleibt dran, bis er fault.“ Dann sagte Dr. X. Maier in seinem bayerisches Dialekt: „Lasst ihn laufen, der kommt wieder.“ Ich nahm meinen rechten Arm wie sonst und ging in den Stall zurück. Auf halben Weg dorthin lag bei 30 Grad Hitze ein Gefangener in einer großen Blutlache. Diese war nur noch Haut und Knochen, er hatte die Ruhr. So vergingen auch dort die Tage in Hunger und Elend.
Ende August wurde das Lager geräumt. Alles, was noch gehen konnte, wurde im Fußmarsch zur Bahn getrieben, der Rest wurde mit Lastwagen angefahren. 50 Gefangene wurden in jeden Waggon gepresst. Wenn alle am Boden lagen, konnte sich keiner mehr drehen. Doch es sollte besser werden, nach zwei Tagen wurden die Ersten ausgeladen. Am dritten Tag waren wir in Kaluga, westlich von Moskau. Auf drei Gleisen standen drei Transporte mit russischen Soldaten auf dem Weg zur Front. Ich sah, wie unsere Ärzte sich mit den russischen Offizieren unterhielten. Die Offiziere kamen an unseren Waggon und öffneten die Türen. Unter ihrer Aufsicht bekamen wir nach 3 Tagen etwas zu Essen (2 Stück Brot). Wer konnte, durfte unter ihrer Aufsicht von einem Brunnen trinken, dann ging es weiter.
Nach zwei Tagen hatten wir Moskau erreicht. Wir wurden von einem Bahnhof zum andern gefahren. Transporte an die Front hatten Vorrang. Beim dritten Bahnhof war zwischen den Gleisen ein Standrohr der Feuerwehr, dieses war undicht. Daneben stand ein kleiner Junge, der uns zuschaute. Ich rief auf russisch um Wasser. Ich steckte eine leere Büchse durch einen Waggonschlitz. Der Junge sprang sofort her und füllte sie. Schnell tranken meine Kameraden und ich, der Junge füllte mehrmals die Büchse. Dem kleinen Engel sagte ich „Bolschoi spasiba“ – Vielen Dank -, dann verschwand er. Nach zwei Tagen begann die Weiterfahrt. In Gorky überquerten wir die Wolga. Nach Gorky durchfuhren wir stundenlang nur Urwälder, die von Seen unterbrochen wurden. An den Seen wurde immer Halt gemacht, um die Toten auszuladen. Viele bekamen dort ihr Grab. Auf der ganzen Fahrt bekamen wir 3x zu Essen (Brot).
Nun waren wir am Ziel, der Ort hieß Oretschi. Es war ein kleiner Ort, gelegen an der Bahnlinie Archangels-Workuta. Der Ort hatte eine Rayon-Schule, diese diente während des Krieges als Lazarett für die Eismeerflotte der russischen Marine. Da die deutsche Flotte längst ausgeschaltet war, wurde das Lazarett auch nicht mehr gebraucht. Somit war das Lazarett für uns Gefangene frei. Ausgeladen wurden wir aber nicht auf dem Bahnhof. Wir wurden an einem 4m hohen Damm ausgeladen und nach Verfassung auch hinuntergeworfen. Einige hatten noch die Kraft zum Schreien. In hundert Meter Entfernung stand ein kleines Haus, dies war eine Sauna. Dort wurden wir gewaschen und alle Haare entfernt. Mit einem Pferdegespann wurden wir dann in das Lazarett gebracht, welches erst vor kurzem von russischen Soldaten verlassen wurde. Die Betten waren noch warm.
Am dritten Tag begann der Lazarettbetrieb, eine russische Ärztin und ein deutscher Arzt machten die erste Visite. Sie schauten uns alle an und erkundigten sich nach unseren Verwundungen. Die russische Ärztin schaute mehrmals meine Verwundung an und sagte zur mir: „Du Sanitäter“. Ich protestierte, da ich nichts davon verstand und kein fremdes Blut sehen konnte. Aber der deutsche Arzt sagte zu mir: „Wenn du überleben willst, musst du es machen.“ Nun begann der Sanitätsdienst, die meisten der 25 Patienten konnten nicht aufstehen. Die Krankenzimmer waren schmutzig. Unserer Oberschwester, die aus Leningrad kam, lag Sauberkeit sehr am Herzen. Die vier Putzfrauen reinigten nur die Dienstzimmer der beiden Ärzte, den Verbandsraum und die Küche notdürftig. Die Oberschwester war eine kluge Frau, in kurzer Zeit sprach sie ganz gut Deutsch. Die wenigen Worte, die ich Russisch sprach, habe ich von ihr gelernt. Nach drei Wochen fragte ich sie, ob sie mir kurze Zeit ein Messer geben könnte. Sie sagte, dies sei nicht möglich, das wäre strengstens verboten. Ich sagte ihr, dass ich auch Wachmänner aufstelle und bei Gefahr das Messer gleich zurückbringe. Ich sagte ihr, ich will den Boden abziehen und reinigen. Ich habe ihr versichert, dass ich selber Posten aufstelle und bei Gefahr sofort meine Arbeit abbreche. Nach getaner Arbeit sah der Boden aus wie nagelneu. Nach einigen Tagen kam sie mit einem Wunsch zu mir. Sie suchte einen Mann, der in der Garnison und beim Kommissar Malerarbeiten machen sollte. Ich ging auf mein Zimmer und fragte dort nach einem. Ich stellte der Oberschwester den Maler mit Namen Akte vor. Eines Tages brachte Akte einen Kübel weißer Farbe mit. Ich zog die Betten an zwei Wänden vor und strich diese, für den gemauerten Ofen reichte es auch noch. Auf die Frontwand malte Akte einen Elefanten und eine Palme.
Nach ein paar Tagen sagte die Oberschwester: „Posli saftra bolschoi kommission.“ – Übermorgen kommt großer Besuch aus Moskau – und rannte den ganzen Tag umher und traf Vorbereitungen. Die Kameraden, die aufstehen konnten, mussten dies dann auch tun. Ich bat alle, sich anständig zu benehmen. Der Besuch aus Moskau kam mit dem Flugzeug. Sie besichtigten alle vier Gebäude und gingen in alle Zimmer. Unser Zimmer war das letzte. Der russischen Kommission gehörten auch zwei Generäle an. Diese zwei waren vollbehangen mit Orden und Ehrenzeichen. Als die Herren mit ihren Begleitern das Zimmer betraten, rief ich: „Smirna“ – habt Acht vor ihnen -. Ich meldete ihnen, dass 25 Menschen im Zimmer waren. Alle schauten ganz verdutzt, richtig wäre gewesen „Gefangene“. Doch der ältere der beiden Genossen Generäle legte die Hand an seine große Schirmmütze und sagte „Spasiba“ – Danke – . Alle schauten sich das Zimmer an, danach sprach der ältere General mit der Oberschwester „Otschin karosche balade otschin ziste“ zu Deutsch, das ist das schönste und sauberste Zimmer im ganzen Lager. Er wollte von der Oberschwester wissen, wer hier der Sanitäter sei. Sie zeigte über den Tisch auf mich. Der General schob alle, die im Weg standen, zur Seite und gab mir die Hand. Er brummte etwas, was ich nicht verstand. Dann schlug er mir auf die Schulter und sagte „Wo“. Das Wort, welches ich noch nie gehört hatte, heißt „das ist besonders gut“. Ich war natürlich erschrocken und mir rutschte auch das Wort „Wo“ heraus. Ihr könnt euch nicht vorstellen, was jetzt für ein Gelächter losging. Ich sehe immer noch den herzlich lachenden Genossen General kopfschüttelnd vor mir. Als sie gingen, sagte ich nochmals „Smirna“ – Habt Acht -. Beide Genossen drehten sich nochmals lachend um und sagten „Spasiba“ – Danke – .Vor unserem Haus verabschiedeten sich die Gäste vom russischen Wach- und Sanitätspersonal. Als der ältere General sich von unserer Oberschwester verabschiedete, ging ein Gelächter los. Der junge „Plenny“ – Gefangene – auf Zimmer 4 wäre ein Original. „Weißt du überhaupt, was er zu dir sagte?“ Meine Antwort „Nein.“ „Er sagte, das ist das schönste Zimmer im ganzen Lager, und du hast auf Russisch gesagt, du hast Recht.“
Die Oberschwester war aus Leningrad. Ich habe mir die Frechheit erlaubt und sie gefragt, was sie angestellt hatte, da sie hier im Verbannungsgebiet war. Sie erzählte mir aus ihrem Leben, sie war verheiratet mit einem russischen Major. Ihre Ehe war glücklich, aber wie sie sagt leider kinderlos. Ihr Mann war 3x verwundet worden, sie habe ihn jedes Mal zum Hause gesund gepflegt. Er war gerade wieder 1 Woche an der Front, als ihr morgens bei Dienstbeginn gesagt wurde, sie müsste einen Krankentransport begleiten. Sie durfte noch 30 Minuten nach Hause und schrieb ihrem Mann einen kurzen Abschiedsbrief. Sie wusste nicht, ob er noch lebt und er nicht, wo sie sich befindet. Zurückgekehrt setzte sich der Zug auch gleich in Bewegung. Die Fahrt ging nach Norden an den Ladogasee. Der See war so stark gefroren, dass er einen ganzen Zug nach Archangelsk und weiter bis in den Rayen Workuta trug. Hier im Lazarett Oretschi im Rayon Workuta war ihre Reise zu Ende. Unter vier Augen schimpfte einmal diese Frau heftig. Über wen? Über den Genossen Stalin. Dieser Verbrecher wusste doch, dass Leningrad von der Hand in den Mund lebt, dass keine Nahrungsvorräte vorhanden waren. So kam es, dass nach der Einschließung der Stadt jeden Tagen viele den Tod durch den Hunger fanden. Für diese Frau waren wir Gefangene auch Menschen. Ich merkte es am besten, wenn am Morgen die Toten raus gebracht wurden. Ich habe ihre Güte nie vergessen.
Mitte November kam eine russische Zahnärztin ins Lager. Sie hatte dreimal in der Woche Sprechstunde. Von meinem Zimmer gingen drei Mann zu ihr. Es war im ganzen Lager bekannt, dass die Zahnärztin taubstumm war. Sie zeigte nur, was zu machen war. Mit ihrer Arbeit waren sie sehr zufrieden. Bevor ich behandelt wurde, ging ich auf Zimmer Zwei. Dort war als Patient ein Dr. Rechtsanwalt, mit ihm habe ich mich unterhalten. Er meinte, er kenne sich bei dieser Frau nicht aus. Seiner Ansicht nach hört sie, kann nur nicht sprechen. Für mich war alles egal, Hauptsache, meine zwei Zähne wurden gemacht. Nun ging ich zur Sprechstunde und kam auch gleich dran. Sie zeigte auf den Stuhl, auf den ich mich setzen musste. Sie untersuchte mich mit dem Spiegel und dann ging es mit dem Bohren los. Sie gab mir eine Büchse mit Wasser zum Spülen und zeigte auf einen Kübel zum Ausspucken. Gleich ging das Bohren weiter. Auf einmal stoppte die Frau und schaute mich längere Zeit an. Was kam jetzt? Die Frau sagte in perfektem Deutsch: „War das, was ihr mit den Juden gemacht habt, in Ordnung? Es sind meine Glaubensbrüder.“ Ich erstarrte, brachte kein Wort heraus. Jedes Wort konnte jetzt schlimme Folgen haben. Auf einmal sagte sie: „Geben Sie mir Ihre Hand!“ Ich gab ihr meine Hand, nun sprach sie weiter. Sie sagte: „Was wir jetzt und auch in Zukunft miteinander sprechen, bleibt unter uns. Wenn Sie ein Wort weitergeben, bin ich keine Jüdin mehr. Machen Sie es auch so!“ Ich musste kämpfen, bis ich das Wort „Ja“ herausbrachte.
Unser folgendes Gespräch sollte mehr als 30 Minuten dauern. Bei allen andern Patienten war sie in vier bis fünf Minuten fertig. Auch bei unserem Rechtsanwalt, den ich kurz nach meiner ersten Behandlung auf dem Flur traf. Er fragte natürlich gleich nach der Zahnärztin. Meine Antwort war kurz, mir ginge es wie ihm, auch ich würde aus ihr nicht schlau werden. Der Frau rechne ich es heute noch hoch an, sie wollte nie etwas über einen Kameraden wissen. Das Thema war die große Politik. Sie wollte wissen, warum wir den „Hitler“ gewählt haben. Der hat doch ein Buch geschrieben und alles erwähnt, was er machen wird, auch mit den Juden. Meine Antwort lautete, dass ich aus einem Dorf mit 1700 Einwohnern komme und dass keine 5 das Buch gelesen und noch viel weniger gekauft hatten. Wir hatten doch kein Geld, bei uns waren alle arbeitslos. Deutschland hatte 7,5 Millionen Arbeitslose, mehr als die Hälfte war ausgesteuert. Mit dem Wort ausgesteuert konnte sie nichts anfangen. Ich musste ihr erklären, dass diese Menschen täglich von Haus zu Haus zogen, um ein Stück Brot einzubetteln. Sie konnte es einfach nicht verstehen, dass Deutschland Russland überfallen hatte. Es wurden doch in Lucarno (Italien) und am 23. August 1939 in Moskau Verträge abgeschlossen und Russland hatte doch noch nie einen Angriffskrieg geführt. Nun hatte ich ihr Gespräch unterbrochen und sagte, dass ich von Lucarno nichts wisse und uns in der Volksschule im Geschichtsunterricht gelehrt wurde, dass Russland nur Verteidigungskriege führte. Ob das zu diesem Zeitpunkt noch stimmte, wusste ich nicht, denn ich kam 1936 aus der Schule. Sie wollte wissen, wie ich das meinte. Ich sagte, dass im Juli 1939 in Moskau die Verträge abgeschlossen wurden und dabei doch auch Geheimverträge. Den Wortlaut dieser Verträge wurde uns auch erst bei Kriegsbeginn mit Russland 1941 bekannt gemacht. Nun wollte sie wissen, was in den Geheimverträgen stand. Stalin wollte halb Polen, des weiteren die baltischen Staaten und von Finnland ganz Karelien. Was dann zum Winterkrieg 1939-1940 führte. Davon wusste sie natürlich nichts. Nach so einer Sitzung sagte sie, sie könnte die Zähne fertig machen, aber sie habe kein Material mehr. Später kam der erste aus meinem Zimmer „Gott sei Dank, meine Zähne sind fertig.“ So auch die anderen. Ich erkundigte mich beim Rechtsanwalt, dieser bestätigte, dass auch seine Zähne fertig waren.
Ich musste noch dreimal zur Behandlung kommen, dann waren auch meine Zähne fertig. Nun wollte ich mich bei ihr bedanken, kam aber nicht dazu. Sie unterbrach mich mit den Worten: „Halt, ich zuerst. Ich schulde Ihnen Dank, ich sehe heute vieles anders als vor drei Monaten, dafür herzlichen Dank.“ Nun nahm sie mich an beiden Handgelenken und sagt: „Ich habe noch eine Frage an Sie. Sie können antworten oder nicht, niemand wird etwas erfahren. Haben Sie jemand umgebracht?“ Meine Antwort: „Bevor ich antworte, sie wissen, ich war Soldat. Ich war bei der Feldartillerie und musste die Granaten in das Rohr legen. Ein anderer Soldat zog ab, ob es dabei …“ Sie unterbrach mich wieder. „Das ist doch normal, es ist Krieg. Sie wissen genau, was ich meine. Wenn ich niemand etwas glaube, Dir glaube ich, Du hast niemand etwas getan.“ Zum ersten Mal sagte die Frau „Du“ zu mir. Zum Abschied sagte sie noch: „Nun wünsch ich Dir für die nahe Zukunft Glück und Gesundheit und für die ferne Zukunft Gesundheit und eine glückliche Heimkehr.“ Ich war überglücklich über das Wort „Du“. Wir trafen uns als Todfeinde und trennten uns als gute Freunde. Sie wollte wirklich über niemand aus dem Lager etwas wissen. Über diese angebliche taubstumme Frau könnte man ein ganzes Buch schreiben. Ihr Alter dürfte damals zwischen 55 und 60 Jahren gelegen haben. Oft denke ich heute noch darüber nach, warum mich diese Frau als Gesprächspartner nahm. Im Lager waren doch 11 deutsche Ärzte und mehrere Rechtsanwälte. Sie musste mich bei der Arbeit als Sanitäter längere Zeit beobachtet haben. Ich hatte auch das Glück, auf meinem Zimmer starben nur 4 Mann.
Im November 1948 kehrte ich in die Heimat zurück. Im Herbst 1950 musste ich zum Zahnarzt. Dr. Vogelhund untersuchte meine Zähne, er tippte sofort mit seinem Spiegel an die beiden russischen Zähne und fragte, von wo ich diese Zähne habe. Dies wäre amerikanisches Material, das sehr teuer war. Ich sagte ihm: „Die wurden in der Gefangenschaft von einer Zahnärztin gemacht.“ Seine Antwort: „Dann waren Sie in Amerika?“ „Nein, in Sibirien.“ Er lachte „Und nun Spaß beiseite, wo waren Sie in Amerika?“ „Ich habe die Wahrheit gesagt.“ Und dann erzählte ich ihm die Geschichte von der taubstummen Zahnärztin von Oretschi. Seine Antwort darauf war: „Sie springen jetzt mit dem Gebiss eines Kommissars herum.“
Nun zurück nach Oretschi. Der Aufenthalt ging am 10. Dezember dort zu Ende. Es kam ein Transport aus Ungarn. Es wurden Leute entladen und wir hineingestopft. Wohin die Reise gehen sollte, wussten selbst die Russen nicht. Unser Transport stand bei grimmiger Kälte auf dem Güterbahnhof Kotlas fest. Es gab natürlich nichts zu essen. Am dritten Tag setzte sich der Zug in Bewegung in Richtung Lusa (Rayon Workuta). Am Mittag wurden wir auf dem Bahnhof Lusa ausgeladen. Zu Fuß wurden wir zum Lager getrieben, das ungefähr sechs Kilometer vom Ort entfernt auf einer kleinen Anhöhe lag.
Von Lusa gibt’s nichts Gutes zu berichten. Nach vier Tagen bekamen wir das erste Essen, es war eine Erbsensuppe. Wer drei Löffel Erbsen in der Suppe hatte, war ein Glückspilz. Die Suppe roch sehr stark nach Petroleum. 600 Gramm Brot und drei Suppen war unser Essen für die nächsten vier Monate. Woher der Petroleumgeschmack kam? Beim Transport der Erbsen auf einem Lastwagen wurden auch ein paar Fässer Petroleum zugeladen, davon lief eines aus. Für uns Gefangene machte das nichts aus. Wasser zum Trinken gab es nicht. Der Durst musste mit Schnee gelöscht werden, viele aßen den Schnee auch gegen den Hunger mit schrecklichen Folgen.
Unser Arbeitsplatz waren drei große Holzplätze, zwei davon grenzten an einen Steilhang. Von dort ging es runter ins Tal, der ganze Steilhang lag voll mit Baumstämmen jeglicher Stärke und Länge. Dieses Holz mussten wir den Berg hochziehen, es war eine schreckliche harte Arbeit. Der Nachhauseweg war jeden Tag eine Qual und dann das gute Essen, das schon von der Menge her kaum zum Überleben reichte. Danach ging es in die kalte Baracke. Es waren zwei Öfen da, die aber ganz selten brannten. Strohsack, Kopfkeil und Decke gab es nicht. Oft mussten wir uns mit nassen Kleidern auf die Bretter legen, Licht gab es auch nicht.
Es war Dezember 1944, ein schwerer und kalter Tag war zu Ende. Die meisten lagen schon total erschöpft auf der Pritsche, da sagte im Dunkeln eine müde Stimme: „Heute ist Heiliger Abend.“ Aus müden Kehlen erklang unser schönes Weihnachtslied „Stille Nacht, heilige Nacht“. Als wir den zweiten Vers begannen, wurde die Tür aufgerissen. Mit einer Stalllaterne und mit Knüppeln bewaffnete betrunkene Horde stürmte schreiend „ihr Faschisten – Banditen“ in die Baracke. Wer ihnen in die Quere kam, bekam auch gleich sein Christkindl mit Prügel.
Ende Februar 1945 mussten wir am oberen Rand des Steilhanges 2,5m tiefe Löcher graben, sechs an der Zahl. Die Entfernung von Loch zu Loch betrug 100 Meter. Für jedes Loch waren sechs Männer eingeteilt, wir standen in einer Reihe. Die Russen zählten ab, ich war der siebte und hatte mit dieser Nummer großes Glück, wie es sich 14 Tage später herausstellte. Ich war der Erste am Loch II, als Werkzeug hatten wir eine spitze Eisenstange. Den Erdaushub mussten wir mit den Händen erledigen. Als Erste waren die von Loch I durch den hart gefrorenen Boden. Dann kam die gute Nachricht, 20cm tiefer kamen Wurzeln und Knollen. „Ich habe sie probiert,“ sagte unser Brigadier, „die schmecken wie Meerrettich.“ Die Kameraden ließen es sich schmecken. Mit dieser Kunde ging er von Loch zu Loch. Nach einer Stunde kam der Brigadier zurück, unterhielt sich mit uns und ging weiter zum Loch I. Sofort rannte er wieder zu uns mit der Nachricht: „Esst ja nicht die Knollen, die Wurzeln sind sehr giftig.“ Er sagte noch, geht zu Loch I und helft denen. Er selber ging weiter und warnte alle.
Den Anblick an Loch I kann man nie vergessen. Nach 10 Minuten waren die ersten zwei Kameraden schon tot. Kurz darauf traf der Brigadier ein, auch er musste das Drama der letzten vier Kameraden mit ansehen. Kaum hatte der letzte die Augen geschlossen, begann auch er zu jammern „Mein Bauch“. Ich vertröstete ihn, du hast ja nur probiert. Es half alles nichts, auch er ist kurze Zeit später so qualvoll gestorben wie die anderen 6 Kameraden. Nun kam ein Pferdewagen, wir mussten die 7 Toten aufladen und weg waren sie.
Dann mussten wir die Baumstämme, die wir den Berg hinauf gezogen hatten, zu Brennholz aufsägen. Die ersten zwanzig der Brigade mussten mit ans Magazin. Ich war auch dabei, jeder bekam ein Beil und eine Waldsäge. Zurückgekehrt zur Brigade sagte ein Russe, dass sich jeder einen Partner aussuchen sollte, mit dem er in nächster Zeit arbeiten will. Nun begann ein Gedränge auf dem schmalen Weg, denn auf beiden Seiten lag der Schnee einen Meter hoch. Ich blieb stehen, mein Gedanke war: die Brigade hat mehr als 40 Mann, ein Schwacher soll dich nehmen. Ich stand nicht lange da, als ich sah, wie einer wie ein Hase durch den hohen Schnee hüpfte. Er stand vor mir, klopfte den Schnee aus den Stiefeln und fragte mich: „Darf ich mit Dir arbeiten?“ „Ja.“ Ich kannte nur seinen Vornamen Robert, er lag in Oretschi auf Zimmer 3. Vielleicht hatte ich mit ihm auch ein paar Worte gesprochen, nun ging es an die Arbeit. Fünf Meter Holz war die Norm. Schnell habe ich erkannt, dass mein Partner nicht ein schwacher, sondern wie die Russen sagen, ein guter Spezialist war.
Am Ende der letzten Woche im April 1945 wurden wir aus dem Schlaf geholt. Am Lagertor musste der Brigadier die Anzahl der Gefangenen melden. Das Tor wurde geöffnet. Bei Nacht und Nebel ging es über Stock und Schnee an ein einzeln stehendes Haus. Es war eine Sauna mit Entlausung, wir mussten uns schnell ausziehen. Die Kleider wurden entlaust und jeder bekam einen Holzkübel mit 4 bis 5 Liter Wasser zum Baden. Zum ersten Mal hatten wir uns seit Dezember gewaschen, auch tat die Wärme in dem alten Haus gut.
In dem Tal, das ich schon anführte, floss ein großer Strom. Wir wussten davon nichts, es war die Wiatka. Auf der Wiatka wurde den ganzen Sommer Holz in jeder Länge und Stärke angeschwemmt. Für das Stauen waren starke Drahtseile mit starken Drahtgittern gespannt. Bald jeden Tag fiel einer ins Wasser. Es dauerte oft Tage, bis die Kleider trocken waren. Wir waren wieder mit Holzsägen beschäftigt, die Sonne schien angenehm warm. In einer kleinen Pause fragte mich mein Partner Robert Sokail: „Albert, was bist du von Beruf?“ Ich habe ihm geantwortet: „Mein Beruf mit Gesellenprüfung ist Goldschmied. Ich habe aber zwei Jahre in der Rüstung bei der ZF gearbeitet. Und was bist du“ Robert war ja zehn Jahre älter als ich. „So wie du mit Säge und Beil umgehen kannst, bist du vom Holzfach.“ „Ja, ich bin mit Sägen umgegangen.“ Nun begann das Raten, von Zimmermann, Schreiner bis Holzfäller, nichts stimmte. Er unterbrach mich: „Das wirst du nie erraten. Ich bin ein Pater, ein katholischer Geistlicher.“ Beten sah ich ihn nie. Man war ja nur ein Arbeitstier. Ich hatte das Glück, dass ich in kurzer Zeit zweimal arbeitsunfähig geschrieben wurde. Wir waren durch die Unterernährung voll gepumpt mit Wasser. Bei mir ging das Wasser ab, da war ich nur noch Haut und Knochen. Bei ihm blieb das Wasser, so war er bei den Russen stark und kräftig.
Den 8. Mai 1945 kann man nie vergessen. Nicht einmal die Hälfte derer, die im Dezember 1944 ins Lager eingezogen wurden, konnte am Lagertor zum Ausmarsch für die Arbeit antreten. Was ist heute los? Wir warteten schon eine ganze Weile. Auf einmal erschien der Kommandant mit dem ganzen Stab und dem deutschen Lagerkommandante, dessen Name Schabrowsky war und schreit laut „Woina Konschai Hitler kaputt“ – Der Krieg ist aus, Hitler kaputt. Nun kam etwas, mit dem hatte niemand gerechnet. Er schickte uns zurück in die Baracken. Wir waren sehr glücklich, viele sahen jetzt die Wende zum Besseren. Doch die Freude und das Glück dauerte nicht ganz eine Stunde, wir mussten wieder am Lagertor antreten. Diesmal gab der sehr betrunkene Kommissar bekannt, dass zu Ehren der Roten Armee das Doppelte gearbeitet werden muss, was ja nicht möglich war. Wir waren bis spät in der Nacht auf dem Holzplatz, etwas zu Essen gab es den ganzen Tag nicht. Einige Kameraden brachen zusammen.
Nun zu unserem deutschen Lagerkommandanten. Er war ein schrecklicher Mensch, der nie ohne Prügel durch das Lager ging. Er war Pole, beschimpfte uns immer, man habe ihn 1941 ohne sein Wissen zum Deutschen gemacht. Ein paar Tage später habe er den Stellungsbefehl bekommen und sei zur Wehrmacht eingezogen worden. Nun sitze er wegen uns Verbrecher hier, die Wahrheit sah aber anders aus. Im Sommer 1946 ging Schabrowsky in die Sauna, um sich zu waschen. Dort saßen bereits zehn Gefangene, die auf ihre Kleider warteten. Beim Ausziehen der Kleider sahen sie bei ihm etwas unter dem rechten Oberarm. Die Blutgruppe, er war bei der SS gewesen. Sie gingen zum Kommissar und meldeten, was sie bei Schabrowsky gesehen hatten. Der Kommissar ließ Schabrowsky holen, er musste sich ausziehen und wurde dann sofort verhaftet. Sechs Wochen später gab der Kommissar bekannt, dass Schabrowsky Tags zuvor erschossen wurde. Niemand im Lager fand ein Wort der Trauer. Sein Nachfolger stand schon fest, Fritz Dangel, das Gegenteil von Schabrowsky. An Güte und Hilfsbereitschaft war er in diesem Amt nicht zu übertreffen. Fritz Dangel war der Mann, dem ich an der Beresina in seiner Not Wasser zu trinken gab.
Im Juni 1945 träumten schon einige von Entlassung und Heimfahrt, denn das Lager war wie ausgestorben. Aber es kam anders. Kurz nacheinander trafen zwei Transporte aus Berlin und Danzig ein. Das Lager war nun über Nacht wieder übervoll. Drei Brigaden mussten in Zelten hausen. Das Bauholz musste sieben Kilometer vom Arbeitsplatz zum Lager getragen werden. Acht Männer mussten einen 8m langen und 20cm starken Stamm vom Holzplatz zum Lager tragen, viele Kameraden brachen zusammen. Es wurde nun fleißig gebaut. So entstand ein schmucker Wohnblock, in den die meisten der Arbeitsfähigen ziehen konnten.
Noch ein Wort zu dem Maler Akte, dem Spitzel von Oretschi: Er war nur kurz arbeitsfähig. Er ist im Lager in einem Schneeloch erfroren.
Beim Transport von Danzig war auch ein Pater dabei, er hatte sogar eine geweihte Hostie bei sich. Mein Freund Pater Robert Sokail hatte ihn ausgemacht. Unser Lagerkommandant Fritz Dangel erlaubte es, dass in seiner Kammer natürlich geheim die Andacht gehalten werden konnte. Ich selber war auch einmal dabei. Der Pater hieß Toni Hoffmann. Tags darauf traf ich den Pater, er bat mich nochmals, wegen den Russen alles geheim zu halten. Am anderen Morgen waren alle Brigaden zur Arbeit am Lagertor angetreten. Da erschien der Wachoffizier und befahl zwei Brigaden zurück in die Baracken. Als wir am Abend von der Arbeit kamen, waren die Kameraden weg, Toni Hoffmann war auch dabei. Sie wurden auf dem Bahnhof Lusa verladen und an einem unbekannten Bahnhof bei Nacht ausgeladen und auf einen Lastwagen verladen. Die Fahrt ging in einen Urwald, dort war ein Lager. Nach einem Jahr wurde das Lager aufgelöst, die meisten fanden in dem Waldlager den Tod. Auch Pater Toni Hoffmann.
Der Herbst 1946 nahte, ich war wieder in der alten Brigade. Mein Freund Robert war wieder an meiner Seite, um das nötige Holz für diesen Tag aufzusägen. Auf einmal stellte er sich vor mich und sagte: „Albert, Du tust mir leid. Wir werden heute Abend eingesperrt, die Norm schaffen wir heute nicht mehr.“ Roberts Kräfte waren total verbraucht. Ich beruhigte ihn und sagte zu ihm, er solle sich setzen, die Arbeit schaffe ich alleine. Ich sehe ihn immer noch vor mir stehen, wie verzweifelt er die Hände faltete und nach Osten schaute. Dabei sagte Robert: „Herr, in Deine Hände lege ich mein Schicksal.“ Danach setzte er sich total entkräftet nieder. Eine Stunde später flog ein alter Doppeldecker über uns weg. Das Flugzeug flog so tief, dass einige meinten, der müsse notlanden. Tatsächlich war das Flugzeug mit zwei russischen Ärzten gelandet, die die Kranken und Schwächsten für die Heimreise aussortierten. Robert war auch dabei. Die Aussortierten wurden sofort in Block IV gebracht. Mit ihnen durfte niemand mehr reden. Ich stellte mich an einen Platz, an dem die Ausgesuchten in 10m Entfernung vorbei getrieben wurden. Ich rief den Namen Robert, gleich drehte er sich um, doch russische Posten gingen auf ihn zu. Doch er ließ sich nicht einschüchtern und rief noch die ganze Adresse meines Vaters mir zu. Das war das letzte Lebenszeichen von Robert und vielen anderen Kameraden.
Über das Lager Lusa könnte man ein ganzes Buch schreiben, von guten Taten gibt es nichts zu berichten.
Im September 1946 bekamen wir die ersten Strohsäcke, füllen mussten wir sie mit feuchtem Sägemehl. Die feuchten Sägemehlsäcke waren nach 2 Tagen hart wie Beton, dieser Schreck dauerte nicht lange, Gott sei Dank. Es kam der Tag der Erlösung von Lusa. Ein kleines Häuflein Kameraden stand wie jeden Tag am Tor zum Ausmarsch zur Arbeit bereit. Auffallend an diesem Tag waren die vielen Wachposten. Nach dem Abzählen wurden wir gründlich gefilzt. Jedes noch so kleine Zettelchen wurde uns abgenommen, es könnten ja Adressen von Verstorbenen darauf gestanden haben. Danach teilte sich die Wachmannschaft. Die einen durchsuchten die Baracken, die anderen holten das Küchenpersonal und die Kranken. Nun war das ganze Lager am Tor versammelt, niemand von uns wusste, was nun passiert. Das Tor wurde geöffnet, wir marschierten hinaus. Oh mein Gott, dieser Anblick. Auf einer Wiese standen Hunderte von Menschen. Es waren russische Männer und Frauen, die in Deutschland gearbeitet hatten. Sie waren in Westdeutschland gewesen, alle waren gut genährt und gekleidet. Fünf der Männer hatten komplette Parteiuniformen an, natürlich ohne Hakenkreuze. Ihnen wurde versprochen, dass sie nach Hause kommen würden. Nun diese schlimme Überraschung, sie waren jetzt nicht nur Gefangene, sie waren Verräter.
Wir wurden zum Bahnhof Lusa gebracht. Dort wurden wir in Personenwaggons verladen. Zum ersten Mal durften wir Gefangene mit Zivilisten in einem Abteil fahren. Wir fuhren etwa 10 Stunden und landeten in Kirov, unser neues Zuhause war nun 307/2 Kirov.
Am zweiten Tag in Kirov wurden alle von russischen Ärzten untersucht. Ich war arbeitsunfähig, sehr abgemagert und hatte Erfrierungen Dritten Grades. Mir fehlt am linken Fuß die halbe große Zehe, die Erfrierung geschah im März 1946. Das Thermometer zeigte 52 Grad Minus. Niemand musste bei solcher Kälte zur Arbeit, bei uns Gefangenen war es egal. In Kirov 307/2 war ich nur ein paar Wochen. Von hier aus ging ein Transport Kranker und Schwacher ins Lazarett nach Oretschi, ich war dabei.
In Oretschi kamen wir in den Bau, in dem ich vor mehr als zwei Jahren Sanitäter war. Wir standen auf dem Flur in Reih und Glied, auf einmal geht bei Zimmer 4 die Tür auf. Wer kommt heraus? Schwester Nina, meine Altersgenossin. Stolz wie sie war, ging sie an uns vorbei, hat uns aber angeschaut. Mein Gedanke war, die will dich nicht kennen, doch es passierte etwas Unverhofftes. Sie drehte sich vor der Tür des Verbandsraumes um, kommt zurück, gibt mir die Hand und sagt: „Grüß Gott Ocker, lebst Du noch?“ Meine Antwort war kurz, ja Nina, ich lebe. Sie ging dann in den Verbandsraum. Die Tür war noch nicht ganz geschlossen, da ging sie wieder auf. Wer kam heraus? Meine Chefin, die Oberschwester, die Majorsfrau aus Leningrad. Sie begrüßte mich und sagte: „Wir treffen uns jetzt wieder öfters.“
Es kam aber anders, ich kam in einen anderen Bau wegen meiner Erfrierungen. In diesem Bau war die Wanzenplage ganz furchtbar. Um dieser Plage aus dem Wege zu gehen, setzte ich mich nachts auf den Flur. Viele Stunden saß ich auf einem breiten Fenstersims und beobachtete den Bahnverkehr Workuta-Archangels. Der erste Personenzug war gerade vorbei gefahren, es war 2 Uhr nachts. Ein Mitgefangener kam den Flur entlang, er musste seine Notdurft verrichten. Im Vorbeigehen grüßten wir uns freundlich, es war Dr. Frenzel. Er kam vom WC zurück uns sagte zu mir: „Wir zwei kennen uns doch, aber woher“ Ich sagte: „Herr Doktor, raten Sie mal.“ Er beginnt das Ratespiel. „Warst Du in Tübingen in der Klinik für Innere? Da war ich Oberarzt. Oder aus der Gegend von Tübingen?“ Seinen Blick habe ich nie vergessen als er sagte: „du bist doch der, dem wir in dem Pferdestall in Minsk den Arm abnehmen wollten.“ Wir unterhielten uns längere Zeit nur über den Arm, sein Kommentar war immer derselbe „Unglaublich“. Er sagte, das muss ich gleich meinem Kollegen Dr. X. Mayer berichten (X. Mayer war der Chirurg). Nach kurzer Zeit kamen die beiden Herren, es war gegen 3 Uhr. Sie unterhielten sich mit mir und sagten immer, dass ich Glück gehabt hatte. Zu Dr. X. Mayer muss ich sagen, er war ein guter Arzt und Chirurg. Er hatte vielen geholfen, Russen und Deutschen. Sein Spruch lautete immer: Das Messer ist immer die beste Arznei.
Im Lazarett Oretschi war ich nur einige Wochen, man hatte ja auch schon das Jahr 1947. Mein nächster Aufenthalt war wieder Kirov, diesmal das Lager 307/4. In diesem Lager waren 2/3 Rumänen, der Rest waren Deutsche. Lagerkommandant war ein Rumäne mit Namen Salomon. Er war Jude. Es kann sich ja jeder ausdenken, was wir dort erlebten mussten. Er hatte immer einen Prügel bei sich für uns Deutsche. Der Lagerarzt war auch ein rumänischer Jude, Aventi war sein Name. Meine erst Arbeitsstelle war ein Sägewerk in der Stadt. Die Arbeitszeit war von 2 bis 10 Uhr, dort war ich 6 Wochen. Danach kam ich in ein Werk, in dem leichte landwirtschaftliche Geräte und für die Rote Armee schwere Flakgranaten gemacht wurden. Wir Gefangene mussten die gedrehten Granaten in die Schmiede fahren. Dort wurden sie geglüht, in der Schmiede war es angenehm warm, was wir köstlich ausnutzten. Auch die Wachhunde wärmten sich schlafend hinter den Öfen, was einem zum Verhängnis wurde. Ein paar Zigeuner haben einem Hund das Fell über die Ohren gezogen, Was nicht essbar war, ging gleich durch den Kamin. Bekommen haben wir nichts. Es war Feierabend und der Hund wurde vermisst. Eine große Suchaktion begann. Nach einer Stunde wurde sie ohne Ergebnis eingestellt. Der Hund war laut den Russen entlaufen. Wehe, wir hätten ein Wort gesagt.
Im Lager brach nun eine Seuche aus, die Gelbsucht. Begonnen hatte die Seuche bei einer Brigade, die in der Brotfabrik arbeitete. Sie mussten dort Brennholz sägen. Brotreste und sonstiger Abfall wurden einfach auf den Müll geworfen. Diesen Abfall teilten sich Ratten und Gefangenen gleichermaßen. Der Abfall war die Ursache für die Gelbsucht, auch ich wurde angesteckt. Ich lag 14 Tage im Revier, dann wurde wieder ein Transport ins Lazarett zusammengestellt. Ich hatte Glück und war dabei, diesmal ging es nach Woroschniza. Noch ein Wort zum jüdischen Lagerkommandanten Salomon. Über Nacht hatte er sich gewandelt, vom schreienden schlagenden Menschen hatte er sich zum Freund entwickelt. Was war geschehen? Er bekam von zu Hause die erste Post. Seine Frau und seine 4 Kinder lebten, das war doch schön.
Woroschniza war ein kleiner Ort mit wenigen Häusern aber einem großen Zementwerk. Ich lag 4 Wochen auf der Krankenstation, dann kam ich zur Arbeitsbrigade. Diese musste Brennholz für das Zementwerk aus dem Wald beschaffen. Wir fuhren jeden Tag eine Stunde mit einer Kleinbahn tief in den Wald hinein, dort mussten wir die Loren mit Holz beladen. Das nötige Holz mussten wir tief aus dem Wald an die Bahnlinie karren, es war eine furchtbare Schinderei. Zweimal am Tag fuhr der Zug. Wenn die zweite Fuhre verladen war, durften wir uns für die Rückfahrt darauf setzen.
Eines Morgens, als wir am Tor standen, kamen mehr Wachmänner als sonst, was ist heute los? Es ging heute nicht zum Bähnle. Zu Fuß ging es kurz über die Felder, dann zwei Stunden durch den Urwald bis an eine freie Stelle. Sie dürfte ca. 200 x 200 Meter groß gewesen sein. Auf diesem Platz standen sieben Häuser. Eines der Häuser stand ganz abseits von den anderen und dieses wurde unsere Unterkunft. Ein Wachmann öffnete die Tür und wir konnten hinein. Das Haus hatte nur einen Raum. Auf beiden Fensterseiten lagen in Reih und Glied Strohsäcke für uns bereit, man sah, dass sie schon oft benutzt worden waren. Von hier aus ging es nun jeden Tag an die Arbeit. Die Gehzeit zu unserer Arbeitsstelle war etwa 20 Minuten. Der führte an den sechs Häusern vorbei, davon waren vier Häuser bewohnt. Jeden Morgen und jeden Abend stand eine Person am Fenster und beobachtete uns, wenn wir vorbeigingen. Die Bewohner hatten alle einen kleinen Garten mit Gemüse und Tabakpflanzen. Hatten sie Angst, dass wir etwas klauen würden? Der Grund ihrer Angst lag woanders. Durch Zufall kamen auf dem Holzplatz mit zwei dieser Bewohner zusammen. Auffallend an dem Gespräch war, sie hielten immer Abstand zu uns. Die vier Familien waren Polen, alle waren Landwirte. Sie hatten dieselbe Menge an Getreide abgeliefert wie die deutschen Bauern. Alle, vom Großvater bis zum Neugeborenen, wurden hierher verschleppt wegen Zusammenarbeit mit dem Feind. Dies war aber nicht der Grund für ihre Zurückhaltung gegenüber uns. Der Grund war, dass das ganze Lager vorher binnen weniger Tage an einer Seuche ausgestorben war. Sie erklärten uns auch die Stelle, wo sie begraben wurden. Wir machten uns schnell auf die Suche und waren nach kurzer Zeit fündig. Unter einem großen Erdhügel hat das ganze Lager eine letzte Ruhestätte gefunden. Ein kurzes Gebet und ein paar Blumen waren unser letzter Gruß.
Der Hunger war überall unser Begleiter, doch hier in der Wildnis konnte man ab und zu etwas Essbares finden. So gab es auch große Dornenbüsche. Ihre Früchte (Hagebutten) wurden mit den Kernen in großen Mengen verzehrt, was gut für unsere Verdauung war. Es gab noch Pilze, die man kochen konnte und große Preiselbeerplatten konnte man finden. Das Glück, eine solch große Preiselbeerplatte zu finden, hatte ich. Ich war fleißig am Pflücken. Als ich den Kopf hoch nahm, stand in ca. 30m Entfernung ein großer Bär, der auch im Boden wühlte. Er nahm den Kopf hoch und wir schauten uns gegenseitig an. Es war ein großes Tier. Die Vorderbeine waren ganz kurz, die Hinterbeine waren viel länger. Er war am Hinterleib viel größer als am Kopf, auf einmal drehte er sich um und lief davon. Als ich ihn nicht mehr sah, drehte auch ich mich um und suchte den Weg zum Lager. Ich hatte großes Glück, dass ich die Nerven nicht verlor und er nicht meinen Hunger hatte.
Es war schon Herbst 1947 als wir in dieser Wildnis abgelöst wurden. Wir kamen zurück ins Lazarett Woroschniza. Von dort ging es weiter ins Arbeitslager Kirov, diesmal ins Lager 307/2. Das Lager bestand aus zwei Werkshallen, die durch einen Zaun vom Werk getrennt waren. In diesem Werk, das nun in der Stadt lag, fanden viele Gefangene Arbeit. Ich selbst war dort bis Februar 1948 tätig. Wir kamen einen Abends von der Arbeit, da stand unser beliebter deutscher Lagerkommandant am Tor. Er rief meinen Namen, ich ging zu ihm, wir unterhielten uns nett. Er fragte: „Wo arbeitest Du?“ „Bei Remonstreit“ „Das ist nichts Besonderes. Ich besorge Dir etwas Besseres. Ich schulde es Dir, Dein Wasser an der Beresina 1944 hat mir das Leben gerettet.“
Einen Tag später stand der Kommandant Fritz Dangel wieder da, er ruft mich. Er sagte: „Albert, ich habe für dich einen WK-Posten.“ Meine Antwort: „Das ist nicht jedermanns Sache.“ „Damit habe ich gerechnet, ich werde Dir etwa anderes besorgen.“ Wir unterhielten uns noch längere Zeit. Auf einmal sagte Fritz: „Wenn Du das angenommen hättest, wäre ich enttäuscht gewesen.“ Was wären meine Vorteile gewesen? Ich hätte in der Unterkunft der russischen Wachmannschaft gewohnt und ihre Verpflegung bekommen. Jeden Monat 50 Rubel und freien Ausgang in der Stadt und noch manch andere Annehmlichkeit. Die Pflichten, die den deutschen Wachposten aber auferlegt wurden, konnte ich nicht erfüllen. Die Überwachung von Jedem und Allem und meine Erkundigungen dann dem Kommissar berichten. Nun trennten wir uns. Fritz gab mir das Versprechen, dass ich eine andere Arbeitsstelle bekomme.
Ich ging in meine Unterkunft, mein Platz war dort an der Fensterfront. Ich zog gleich meine nassen Schuhe aus und schaute durch das Fenster. Wer ging vorbei? Fritz mit meinem Ersatzmann, so schnell geht es oft im Leben. Ob er glücklich wurde, weiß ich nicht. Den neuen Mann kannte ich auch nicht. Wenige Tage später stand Fritz wieder am Tor, er hatte eine gute Nachricht. Bei Sokozerno (Rayon- und Stadtmagazin) war eine Stelle frei. Sofort sagte ich zu. Alles weitere erledigte Fritz. Ich war froh über die neue Arbeitsstelle. In der Sakozerno wurden Nahrungsmittel wie Getreide, Mehl und sonstige Lebensmittel per Bahn und per Lastwagen angeliefert. Diese wurden für die Stadt und den Rayon verteilt. Die Anlage hatte 10 Großscheunen, 4 davon hatten Bahnanschluss. In diesen 4 Scheunen wurde hauptsächlich Getreide, Mehl Sojaschrot und andere Produkte von weither angefahren und gelagert. Einmal in der Woche kam mit der Bahn Mehl, es waren zwei 60-Tonnen-Waggons, die entladen, gewogen und gestapelt werden mussten. Bei Getreideentladung war Staub das Schlimmste, eine Trockenanlage war auch vorhanden. In der Anlage wurde der Hafer getrocknet, der zu Graupen verarbeitet wurde. Diese Graupen und der Sojaschrot schmeckten am besten. Wenn nichts anderes vorhanden war, schmeckte auch der Hafer gut. Hauptsache, man hatte etwas im Bauch. Wie sagten doch die alten Bauern früher: Wenn ich meinem Gaul viel Hafer gebe, muss man aufpassen, da schlägt er gerne seitlich aus. Das war natürlich bei uns Gefangenen nicht so.
In Scheune NB 1 durften wir Gefangene nicht, dort lagerten Zucker und andere hochwertige Produkte. In der Sakozerno habe ich um ersten Mal Geld verdient. 100 Rubel. Das Geld wurde am Abend im Lager ausbezahlt, nun war ich reich. Am anderen Morgen ging es wieder zur Arbeit. Ich ging gleich in Scheune III. Dort war eine alte Frau, die aufpassen musste, dass nichts gestohlen wurde. Die alte Frau war wirklich lieb und nett. Ich fragte sie, ob sie nicht Brot besorgen könnte. Sie antwortete: „Posmatri“ (ich schau mal). Ich gab ihr 10 Rubel, sie ging los. Nach kurzer Zeit kehrte sie mit einem Laib Brot unter dem Arm zurück. Sich lachte genauso glücklich wie ich, als sie mir das Brot und den Rest des Geldes übergab. Ich wollte ihr das Restgeld, es waren 3 Rubel, schenken, aber sie nahm es nicht.
Noch ein Wort zu unserem Brigadier Martin Janzen, überall der „Bubi“. Martin Janzen sprach perfekt russisch, er war bei uns Gefangenen aber auch bei den Russen sehr beliebt. Er setzte sich für das Wohl aller Kameraden ein. Mit ihm bin ich heute noch freundschaftlich verbunden, er besuchte mich schon einige Male in Bettringen.
Auf dem Areal Sakozerno war auch eine Großbaustelle, es war ein Neubau zur Graupenherstellung. Das Bauwerk sollte drei Stockwerke bekommen. An dem Bau wurde schon zwei Jahre gearbeitet. Der Bauingenieur war schwerstbehindert, ihm fehlte das rechte Bein. Dieser Mann wollte den Bau bis Wintereinbruch unter Dach bringen. Dass dies mit seiner Mannschaft nicht machbar war, wusste er auch, denn die Maurer arbeiteten nur im Sitzen, wenn überhaupt. Jeden Morgen wurde zuerst das Bänkle etwas nach rechts oder links gerückt, dann eine Zigarette gedreht und erst dann ging es los. Mörtel machen und Ziegel nach oben bringen mussten vier Frauen erledigen. Eines Tages sahen wir, wie unser Brigadier Bubi und der russische Bauherr sich unterhielten. Nach dem Gespräch kam Bubi zu uns und sagte: „Der Bauherr möchte vier Gefangene, die Material wie Ziegel und Mörtel nach oben bringen. Die Bezahlung habe ich mit ihm gleich geregelt. Habt Ihr Interesse?“ Wir sagten gleich zu. Bubi ging mit uns gleich zur Baustelle und stellte uns dem neuen Chef vor. Wir begannen sofort mit der uns zugedachten Arbeit. Nach wenigen Stunden war soviel Material oben, dass wir es uns hätten gemütlich machen können. Aber nicht wir, es lagen zwei Kellen da, mit denen wir abwechselnd mauerten. Schnell wuchs der dritte Stock, gespannt verfolgte der Bauingenieur unsere Arbeit. Auf einmal angelte sich der Schwerstbehinderte an der Leiter zu uns hoch und schaute sich unsere Arbeit an. Er sagte zu uns: „Ihr seid gute Spezialisten.“ Unser Hermännle, ein Original, entgegnete ihm: „Was meinst, wie oft wir in der Lehrzeit vom Meister eine an die Löffel gekriegt haben.“ Hermann war vor und nach dem Krieg Reisender mit Lebensmitteln. In der Zeit von gerade einmal zehn Tagen war das Mauerwerk des dritten Stockes fertig. Nun kam die schwerste Arbeit. Wir mussten die Träger zum Betondecke hochziehen. Die Träger waren alte Eisenbahnschienen, sie waren alle zwei Meter zu lang. Eine Trennscheibe oder so etwa ähnliches gab es nicht, mit Meisel und Schlegel musste jede Schiene gekürzt werden. Diese schwere Arbeit konnten natürlich nicht vier Mann schnell erledigen. Für diese Arbeit benötigten wir mehr als eine Woche.
In dieser Zeit wurden ca. 100 Mann in das Lager 307/1 verlegt. Wir dachten alle, die fahren bestimmt jetzt nach Hause, doch nicht so. Am anderen Tag kamen Leute aus dem Lager 307/1 zu uns. Es war eine Stunde nach Arbeitsende und das ganze Lager musste wieder antreten. Der Kommissar kam mit einer erfreulichen Nachricht: „Alle, die im Lager sind, werden entlassen.“ Ein Jubelschrei brach aus, jeder bekam seinen Entlassungsschein. Dieses Papier habe ich bis heute gut aufbewahrt. Unsere Baustelle in Sakozerno sahen wir nicht mehr wieder.
Erst 1993 brachte mir der Brigadier, mein Freund Bubi Janzen ein Bild von unserer letzten Baustelle in Sakozerno. Der Bau war 1993 eine Ruine. Wie kam Martin Janzen zu diesem Bild? Wir hatten bis 2002 einen Verein „307 Kirov“, der Treffpunkt war Bad Wildbad. Jedes Jahr in der ersten Woche im Monat Mai war dort ein großes Treffen. Ich selbst war 1989 zum ersten Mal dort, für meine Frau und für mich ein unvergessener Tag. Meine Frau hat seither schon öfters gesagt, dass sie so eine Herzlichkeit selben erlebt hat. Es wurde viel über die Vergangenheit gesprochen. Ich habe nie erlebt, dass jemand mit Hass über unsere Peiniger gesprochen hatte. Natürlich wurden auch derer gedacht, die verstorben waren. Jedes Jahr wurde ein Gottesdienst abgehalten, im Wechsel katholisch und evangelisch.
Nun zurück nach Kirov. Von der Ankündigung unserer Entlassung bis zu unserer Verladung vergingen noch zwei Tage, an den wir in der Stadt arbeiten mussten. Am zweiten Tag wurden wir bei der Nacht um 23.00 Uhr auf dem Güterbahnhof Kirov II bei notdürftiger Beleuchtung verladen. Am Zug entlang lief ein Mann. Als er vor mir stand, erkannte ich ihn. Es war Dr. Karl Sattler. Er fragte: „Albert, habt ihr noch einen Platz frei?“ Ich sagte: „Neben mir.“ „Halte ihn für mich frei, ich hole meine Gepäck.“ Dr. Sattler war der einzige Offizier und der einzige, der Gepäck hatte. Nach ca. zwei Stunden setzte sich der Zug in Bewegung. Während der Fahrt wurden wir zweimal entlaust und unsere Papiere überprüft. Für einige war danach Endstation, sie durften nicht weiterfahren. Diese Szenen kann man nicht vergessen.
In Frankfurt/Oder war unser Zug nun auf deutschem Boden. Am Bahnhof kam eine Durchsage: „Wir suchen den Heimkehrer aus Russland Dr. Karl Sattler!“ Dr. Sattler ging wie geheißen zur Lok. Dort standen mehrere Personen. Alle umarmten ihn, einer der Wartenden kam an unseren Waggon und holte sein Gepäck. Er richtete noch viele Grüße aus und Dr. Sattler war jetzt in Freiheit.
Der Gepäckabholer war für viele von uns ein alter Bekannter. Er war Chef der KP im Lager. Er kam von Kirov nach Moskau auf die Parteischule, er hat sein Geld in der DDR durch Parteiarbeit verdient. An der Entlassung von Dr. Sattler war er beteiligt, wie sonst hätte er wissen können, dass Dr. Sattler dabei war.
Wir fuhren weiter in ein Lager der DDR, von dort ging es weiter in den Westen.
Der Jubel war groß, als wir in Hof den ersten amerikanischen Soldaten sahen.
Wir waren in Freiheit!
Ich habe auch schon geschrieben, dass ich 1988 zum ersten Mal beim „Kirov-Treffen“ in Bad Wildbad war. Es waren 40 Jahre vergangen seit unserer Trennung. Nach 40 Jahren sieht man doch ein wenig anders aus. So begann das Raten im Hotel „Alte Linde“ als ich an der Tür stand und auf den runden Tisch blickte. Circa 20 Kirover saßen dort, zwei standen auf, kamen zu mir und fragten, ob ich ein Kirover bin. „307 Kirov“ hatte ja mehr als 20 Lager, die auf einer großen Fläche verteilt waren. Bei unserer Unterhaltung hörte ich, wie jemand am runden Tisch sagte: „Mensch, das ist doch der Sani vom Zimmer 4 aus Oretschi.“ „Ja, der bin. Ob ich als Sani geholfen, das müsst ihr entscheiden. Aber eins weiß ich, ich habe niemand umgebracht.“ Schon standen mehrere um mich herum und nahmen mich in die Arme. Ich war dabei. Am Nachmittag um 15.00 Uhr war in der Kantine von Bauunternehmer Schill die Hauptversammlung. Es wurden der Kassenbestand und das Neueste bekannt gemacht. Schill war einer der Hauptmacher und Hauptsponsor der Lagergemeinschaft 307 Kirov. Er erkannte mich sofort. Als ich mit Willy Schill sprach, packte mich einer von hinten, drehte mich um und fragte: „Wo kommst Du jetzt her? Ich habe bis vor zwei Jahren nach Dir geforscht.“ Es war Dr. Karl Sattler. Er fragte mich, wie es mir ging und was mein rechter Arm machte. Meine Antwort: „Mit diesem Arm habe ich bisher mein Brot verdient.“ Die ganze Organisation der Gemeinschaft lag in den Händen von Egon Hoffmann mit seinem Stab. Sie mussten viel Zeit dafür aufbringen. Im Mai 2004 wurde die Kirov-Lagergemeinschaft aufgelöst. Von den Tausenden, die in den Jahren 1947 bis 1949 nach Hause durften, leben nur noch ganz wenige. Wie oft mussten wir in den Jahren 1947 bis 1948 von den Russen hören:
„Skora dam Moj – bald nach Hause“
Meine guten Erlebnisse Juli 1944 bis November 1948
Es war kurz nach Mitternacht vom 13. auf den 14. Juli 1944. Wir standen an einem Waldrand und sahen in kurzer Entfernung 4 Gebäude. Wir machten uns gleich auf den Weg, es waren 2 Wohnhäuser und 2 Scheunen. Wir hatten Glück, es waren keine Russen dort. Wir gingen an das erste Haus, aus dem wir ein Weinen hörten. Wir klopften an die Tür. Ein alter Mann mit einem weinenden Buben öffnete, wir brachten unsere Bitte nach Essen vor. Der alte Mann sagte mit Tränen in den Augen: „Ihr könnt das ganze Haus auf den Kopf stellen, Ihr findet nicht ein Stückchen Brot. Ich kann dem Kind auch nichts zu essen geben, er weint vor Hunger. Die Scheune nebenan gehört mir, was Ihr findet, könnt Ihr mitnehmen.“ Der Mann sagte uns, dass wir uns in Rayon Lyda in Ostpolen befanden. Wir gingen weiter.
Nach zwei Stunden wieder das gleiche Bild, wir sind wieder am Waldrand. In ca. 1 Kilometer Entfernung stand wieder ein Hof, umgeben von Wald. Dort waren bestimmt keine Russen und wir marschierten in Richtung Hof. Als wir kurz vor dem Hof waren, standen auf einmal zwei Männer vor dem Gebäude und winkten uns. Es war kurz vor 15 Uhr. Nun kam bei allen Angst vor einer Falle hoch. Alle wollten umdrehen, nach kurzer Besprechung gingen wir doch weiter. Wenn sie ein Gewehr gehabt hätten, wäre sowieso niemand lebend davon gekommen. Es gab nirgends eine Deckung. Die beiden Winkenden waren ein alter und ein junger Mann. Der junge Mann machte die Scheunentür auf, beide forderten uns auf, wir sollten hineingehen.
In banger Angst gingen wir hinein. Nach circa einer Stunde kam der alte Mann zurück und sagte zu mir, ich solle mitkommen. Ich war von den 14 Kameraden der Jüngste und der einzige Verwundete. Er nahm mich mit ins Wohnzimmer, es war die Hütte, die nicht einmal einen Fußboden hatte.
In der Wohnung waren die zwei Frauen, eine alte und eine junge. Die drei Personen sprachen miteinander und kurz darauf verschwanden alle. Ich war allein, saß auf der Bank am Tisch. Bank und Tisch bestanden aus je vier Pfählen und zwei Brettern. Einzige Verzierung in der linken oberen Ecke war ein Kreuz, das ich im Sitzen ansah. In diesem Moment betrat die alte Frau den Raum, ging auf mich zu und sagte „du romanik katholisch“ Meine Antwort „Ja“ und ich zeigte ihr mein Kreuz, das ich an meiner Erkennungsmarke hatte. Was sich nun abspielte, würde für ein kleines Buch reichen. Noch dreimal musste ich mein Kreuz zeigen, bis sie zu dem Schluss kamen, ich sei Priester. Meine Antwort „Nein“ Die beiden Männer haben für uns eine gute Suppe mit Fleisch gekocht. Die beiden Frauen haben mich auf Anweisung des alten Herrn gewaschen. Nun musste ich mich auf ein Bett legen und schlafen. Der alte Mann sagte, er mache den Wachposten. Ich lag noch keine 30 Minuten, da kam unser Wachposten und nahm mich mit vor das Haus. Er zeigte nach Nordwesten, dort war eine Waldlücke. Man sah, dass dort ein größerer Haufen Gefangener vorbei getrieben wurde.
Am Abend berieten wir unsere weitere Flucht. Auf einmal mischten sich die beiden Polen ein. Sie sagten: „Im Dorf stellt jeden Abend um 21.30 Uhr die Rote Armee einen Lautsprecher auf. Dort kommen aus Moskau die neuesten Heeresnachrichten.“ Es war der 14. Juli. Die Nachrichten waren für uns schrecklich, der Russe hatte schon vor zwei Tagen die Vororte von Warschau besetzt. Die Polen gaben uns den Rat, geht nach Norden, das ist der einzige Ausweg. Wir bedankten uns bei den Polen und verabschiedeten uns. Die Gesichter der beiden Männer und das Weinen der beiden Frauen habe ich in meinem Leben nie vergessen. Meine Frage war immer dieselbe: Was hat sie bewegt, dass sie ihr Leben wegen uns aufs Spiel setzten? Wäre ein russischer Soldat auf die Idee gekommen, das sind zwei Spione für Deutschland, sie wären auf der Stelle erschossen worden.
Am Nachmittag des 15. Juli schlug auch für uns die letzte Stunde in Freiheit. Bei Gefangennahme mussten wir uns ganz ausziehen, hinter jedem stand ein Russe mit der MP im Anschlag. Nach bangen Minuten bekamen wir unser Hemd und Hose zurück, das war unsere Bekleidung für die nächsten drei Monate. Anschließend wurden wir abgeführt und kamen bei Nachts ins Zuchthaus „Novogrotek“.
Das Zuchthaus war umgeben von einer sehr hohen Mauer, durch das Areal floss ein kleines Bächlein mit einem guten Wasser. Dass wir nicht verhungerten, dafür sorgten die Frauen aus dem Städtchen, das wir nie gesehen hatten. Die Frauen sammelten die Küchenabfälle und brachten sie jeden zweiten Mittag in Eimern. Die Frauen standen an der hohen Umfassungsmauer und wir an der Zuchthausmauer. Es waren ältere Frauen und dementsprechend gekleidet. Nach 14 Tagen eine große Überraschung. Bei den Frauen stand eine junge hübsche, sehr modisch gekleidete Frau. Die Frauen sprachen mit ihr und was geschah, sie geht an zwei Wachposten vorbei, kam zu mir, nahm mich in den Arm und drückte mich.
In dem Zuchthaus waren mehr als 100 Gefangene. Ich war der einzige, der verwundet war. Zwei Tage später ist die junge Frau wieder dabei, schon ist sie auf dem Weg zu uns. Als der Wachposten dies sah, sprang er mit der MP im Anschlag vor die Frau. Aber die junge Frau schuppste den Posten mit seiner MP zur Seite und ging weiter. Da stand nun der zweite Posten. Ihm erging es wie seinem Kollegen, nur auf die andere Seite. Unbeirrt setzte die Frau ihren Weg fort. Sie machte wieder dasselbe wie zwei Tage davor, nur schob sie mir noch ein Stück Brot in mein zerfetztes Hemd. Der Rückweg wurde für sie zur Katastrophe. Drei Wachmänner stellten sich ihr in den Weg. Es begann ein furchtbares Geschrei, die junge Frau ließ sich nichts gefallen. Solange die vier sich stritten, habe ich das Brot gegessen. Die Frau kam nie wieder.
Nach vier Wochen wurden wir von diesem Zuchthaus erlöst. Das neue Lager war in Minsk. Der Marsch dorthin dauerte drei Tag. Davon übernachteten wir zwei Tage im Freien und einmal auf Kartoffeln in einer Scheune. Uns wurde erklärt, wer eine Kartoffel wegnimmt, wird erschossen. Es waren Bestände der Roten Armee. Zentnerweise wurden in dieser Nacht rohe Kartoffeln gegessen. Die Wachmannschaft bestand aus 1 Offizier, 4 russische Soldaten, 20 polnische Zivilisten, alle hatten deutsche Gewehre.
Bei dem Marsch nach Minsk waren einige dabei, die keine Kraft mehr zum Gehen hatten. Deshalb zog sich der Gefangenenzug weit mehr als einen Kilometer auseinander. Ich hielt mich in der Mitte, ein alter polnischer Wachmann nahm sich meiner an. Er sagte zu mir, ich solle immer in seiner Nähe bleiben. Das tat ich auch, denn ich war bei dem Mann in guten Händen. Erschießen konnte er mich mit seinem Gewehr nicht, es hatte gar kein Schloss. Am dritten Tag kam der russische Offizier hoch zu Ross von hinten auf uns zugeritten. Er sprach mit meinem Begleiter, ich verstand nur ein Wort „Stalin“. Als der Offizier weg war, fragte mich mein Begleiter, ob ich die Unterhaltung verstanden hätte. Der Mann erklärte mir, ich würde jetzt nicht mehr erschossen. Stalin hatte am 1. Mai 1944 einen Befehl erlassen, wonach ab diesem Datum keine Verwundete erschossen werden dürften. Am dritten Tag gegen 17 Uhr waren wir in Minsk. Ich bedankte mich bei meinem Beschützer, dem alten Herrn.
Noch vor dem Lagertor bekamen wir eine Suppe. Der Küchenchef sagte: Morgen bekommt Ihr Brot, Ihr müsst aber zusammenbleiben. Wir waren natürlich glücklich, aber es kam mal wieder anders. Es kamen drei russische Ärzte, die Kranke, Schwache und Verwundete aussortierten. Für uns ging der Marsch weiter in den Ostteil der Stadt, in die Stallung einer Kaserne, wo mir der rechte Arm amputiert werden sollte, womit ich aber nicht einverstanden war. Nach 14 Tagen wurden wir auf einem Nebenbahnhof in Güterwagen verladen. Wir waren fünfzig zum Teil Schwerstverletzte. An der Verladerampe machte sich ein russischer Mann zu schaffen. Dieser sagte uns, wenn ihr noch Kleider habt, die ihr nicht braucht, könnt ihr gut verkaufen.
In Smolensk war es dann soweit, unser Transport stand am äußersten Gleis. Dort kam ein Mann mit einem Laib Brot auf den Zug zugelaufen. Ich zog schnell meine Hose aus und zeigte sie durch den geöffneten Laden. Er winkte sofort ja, er stand vor mir und sagte, ich solle die Hose runter werfen. Ich sagte: zuerst das Brot, dann die Hose. Er ging darauf ein, ich war glücklich mit dem Laib Brot. Der Mann hatte die Hose sorgfältig zusammengerollt. In diesem Moment kam vom Zugende der Wachposten, dieser schrie sofort „Stoi“. Doch der Mann rannte über die Gleise davon und der Wachposten hinterher. Bis der Wachposten wieder zurück war und die Tür öffnete, hatte ich die Hose meines Nachbarn an, der in der Nacht gestorben war. An der Decke hing ein Gurkeneimer, der als WC diente. In diesen warf einer den Laib Brot. Wir transportierten den Toten zur Tür und schon wurde sie aufgerissen. Als die Russen den Toten sahen, schlugen sie die Tür wieder zu. Das Brot war schnell weg. Alle, die aufstehen konnten, stürzten sich darauf. Ich selber bekam auch ein Stückchen ab.
Auf einem kleinen Bahnhof nach Smolensk war wieder Halt. Dort wurden die ersten Toten ausgeladen. Unser Kamerad, den niemand kannte, war auch dabei. Ihm sollten noch viele folgen.
In Kaluga war wieder für längere Zeit halt. Dort standen drei Transporte junger russischer Soldaten, die zur Front fuhren. Die Offiziere interessierten sich für unseren Transport. Sie schlugen die Hände über den Kopf zusammen, als sie die Türen öffneten. Einige der Herren packten den Wachoffizier beim Kragen, als sie erfuhren, dass wir schon drei Tage auf Fahrt waren und nichts zu Essen und Trinken bekamen. Unter ihrer Aufsicht bekamen wir Brot und durften am Bahnhof an einem Brunnen trinken. Auch das gab es.
Am fünften Tag waren wir in Moskau, wir standen zwei Tage auf einem Güterbahnhof. Es war ein sehr heißer Sommertag, zehn Meter von unserem Waggon war ein Standrohr der Feuerwehr, das undicht war. Ich schaute immer wieder durch die Luke nach dem Wasser. Auf einmal stand dort ein kleiner Bube, ich zeigte ihm meine Blechdose. Ich rief ihm zu: Pon buschalsta Wody (Herr gib mir doch Wasser). Er rührte sich nicht. Ich rief noch mal, da sprang der Junge zu mir und sagte daj, gib die Dose runter. Er füllte sie und brachte sie mir, schnall war sie leer. Dann sagte ich zu ihm: meine Dawarisch (Kameraden). Er füllte sie auch für meine Kameraden. Dann verschwand er, ich schaute ihm nach, bis ich ihn nicht mehr sah. Ich habe diesen Buben nie vergessen, unsere Reise ging weiter.
In Gorki überquerten wir die Wolga. Danach fuhr man stundenlang nur durch Urwälder mit großen und kleinen Seen. Diese eigneten sich zur Entsorgung der Toten. Unser nächstes Zuhause war Oretschi.
Oretschi war ein kleiner Ort mit einer Realschule. Diese Schule diente während des Krieges als Lazarett für die Eismeerflotten. Da die Marine diese Gebäude nicht brauchten, wurden sie mit Gefangenen belegt. Ausgeladen wurden wir aber nicht auf dem Bahnhof, sondern an einem Bahndamm, an dem es ca. 4 Meter abwärts ging .Wer selber abspringen konnte hatte Glück, wer nicht, wurde einfach den Damm runter geworfen. In Korpus 2 (Bau 2), Balade 4 (Zimmer 4) musste ich den Sanitäter spielen. Von 26 Kameraden starben nur 4 Männer. Meine Chefin (Oberschwester) war eine Offiziersfrau aus Leningrad, ich habe ihr vieles zu verdanken. Ihre Vertreterin, Schwester Nina, war meine Altersgenossin. Alle Gefangenen hatten vor beiden Frauen Respekt, denn sie behandelten uns als Menschen.
Als ich nach zwei Jahren Unterbrechung wieder in das Lazarett kam, erkannten mich beide Frauen sofort und grüßten freundlich. Beide wussten sogar noch meinen Namen. Ich habe beide nicht vergessen. Die liebe alte Oma aus der Sakozerno 1948 kann ich auch nicht vergessen.
Sonst war immer grauer hungriger Alltag.