Am 26. August 1943 begann meine Rekrutenzeit in der Stammkompanie, Grenadier-Ersatz-Bataillon 460. Dieses lag in den alt-ehrwürdigen Festungsanlagen der Wilhelmsburg in Ulm / Donau. Wir gehörten zur 260. Infanteriedivision, deren kämpfende Einheiten zu dieser Zeit in schwere Abwehrkämpfe im Mittelanschnitt der Ostfront verwickelt waren. Mit einem Guglhupf im Gebäck passierte ich die Wache im mächtigen Torbogen der Wilhelmsburg. Nach der Einkleidung erhielt ich eine Erkennungsmarke um den Hals. Dieses Ding habe ich bis zu meiner Heimkehr aus der Gefangenschaft unversehrt getragen. Ich besitze es heute noch. Vielleicht findet sich einer, der mir das Blech mitgibt, wenn ich zur großen Armee einberufen werde.
Meine Zimmerkameraden und ich sind den Ruf zur Fahne nicht gerade begeistert gefolgt. Trotzdem, so glaube ich, war keiner unter uns, der seine Pflicht hätte nicht erfüllen wollen. Mein Gruppenführer, ein Unteroffizier der Reserve, war ein prima Kerl, im Zivilberuf Regisseur, Münchner. Er brachte mir einige Weisheiten bei, die so nicht in der Heeresdienstvorschrift zu finden sind:
• „Ein Soldat fällt nie auf, weder Positiv, noch negativ.“
• „Ein Infanterist sieht alles, wird aber selbst nicht gesehen.“
• „Infanteristen lassen den Feind herankommen, bis sie das Weiße in seinem Auge sehen. Dann machen sie mit ihm kurzen Prozess.“
• „Gott verlässt einen ehrlichen Deutschen nicht.“
Ich habe daran geglaubt und mich zu meinem Vorteil immer daran gehalten.
Wir lernten: „Infanterie, du bist die Krone aller Waffen, Infanterie du trägst mit Stolz den schweren Affen, Infanterie, ja dich vergesse ich nie, mit dir marschiert der Ruhm aus Deutschlands großer Zeit, hinein in alle Ewigkeit.“
Die Formalausbildung nahm 14 Tage in Anspruch. Dann konnten wir einigermaßen Grüßen und verstanden die Kommandos. Am 11.09.1943 wurden wir in den Zug gesetzt. Zunächst durch unsere „engere“ Heimat, erreichten wir über Saarburg die Schlachtfelder des 1. Weltkrieges, am Marne-Rhein-Kanal und Marne, Luneville – Nancy – Toul – Vitry – Epernay. Vor einen kurzen Aufenthalt auf dem Pariser Ostbahnhof fuhren wir durch Meaux. Auf der Strecke nach Lyon ging es dann Sens zu. Sens liegt an der Yonne, etwa 110 km südostwärts von Paris. In den Befreiungskriegen haben Württemberger diesen Ort 1814 erobert. Eine Bronzetafel an der Jubiläumssäule auf dem Stuttgarter Schlossplatz erinnert daran. Darauf ist auch die Kathedrale von Sens mit heute noch unfertigen Turm zu sehen.
Im sonnigen Herbst begann unsere Gefechtsausbildung. In Joigny und Auxerre lagen weitere Einheiten unseres Regiments. In unserer Kaserne, früher mit französischen Kolonialsoldaten belegt, fanden die 1., 2., 3., 13. und 14 Kompanie Unterkunft. Sie lagen im Hauptgebäude, jede hatte einen eigenen Eingang und ein eigenes Treppenhaus, die miteinander verbunden waren. Auf jeder Bude lag eine Gruppe.
Morgens ertönte auf jedem Stockwerk zur gleichen Zeit der Piff des UvD’s und das Kommando „Kompaniiiiiiiie aufstehen!“ Gleich darauf stieß der Unteroffizier vom Dienst die Tür auf. Da mussten wir schon aus der „Falle“ sein. Vorsorglich gab er noch ein gellendes „Bewegung, Bewegung!“ von sich und entschwand. Nun war es jedem selbst überlassen, wie er schaffte, in der bemessenen Zeit sein Bett und den Spind zu ordnen und sich anzukleiden.
Dazwischen kam das Kommando „Kaffeeholer raustreten!“. Währenddessen trat der Stubendienst in Aktion, um Ofen und Unterkunft zu reinigen. Der Kaffee war schwarz ohne Milch und Zucker. Wir nannte ihn „Negerschweiß“. Das Brot war dunkel und klumpig, die Marmelade undefinierbar, meist von giftig-roter Farbe. Ab und zu gab es ranzige Margarine und grießigen Kunsthonig. Die Ausbildung fand im Schnellverfahren statt. Deshalb wurde im Gegensatz zum Reichsarbeitsdienst der Frühsport vernachlässigt. Fast jeden Tag mussten wir feldmarschmäßig kompanieweise auf dem Kasernenhof antreten. Dies überwachte der Kompaniefeldwebel.
Zunächst hatten wir einen behäbig aussehenden Spieß , der uns „Buben“ nannte. Er sagte, das er wegen uns seine Stimme nicht kaputt mache, nehme er den Daumen nach unten, hieße dies „Hinlegen“. Daumen nach oben „Aufstehen“. So wurde das einige Tage praktiziert. Dann kam ein anderer Spieß. Der sah so finster aus wie der „Kohlenklau“, der auf allen Plakaten zu sehen war, die zum Energie sparen mahnten.
Er war der Ausbund eines Spießes.
Sein Notizbuch steckte zwischen den Knöpfen seines Rockes. In einem Landserlied heißt es: „Der Spieß der hat ein dickes Buch, darinnen steht geschrieben, wer seine Stiefel nicht geputzt und fern vom Dienst geblieben. Noch ist die Lerche wach, doch der Spieß, doch der Spieß der macht schon Krach. Das ist unser Morgensegen.“
Nachdem er die angetretene Kompanie besucht hatte, kam der Kompaniechef, ein Oberleutnant, zu Fuß und manchmal zu Pferd. Der Spieß meldete die Kompanie angetreten, wie viele dienstfähig waren, wie viele krank. „Guten Morgen Soldaten“, bellte der Chef und ließ seine Augen hervorquellen. Wir antworteten “Guten Morgen Herr Oberleutnant“. „Kompanie rechts um! Im Gleichschritt Marsch!“ So ging es zum Kasernentor hinaus.
Der Bataillonskommandeur wohnte direkt über der Wache und beobachtete die mit Gesang ausrückenden Soldaten. Ob beim Aus- oder Einrücken, jede Kompanie sang, sozusagen als Erkennungsmelodie, immer das gleiche Lied, damit der Kommandeur wusste, wer da im Halbdunkeln oder gar bei Nacht unterwegs war. Da wir Infanteristen waren, mussten wir das Marschieren langer Strecken üben. Am Nächsten lag das Übungsgelände Ferme Saint Pere. Mancher hat geflucht, wen es hieß „Granaten“ und wir uns so schnell und so tief wie möglich einbuddeln mussten.
Unser Gruppenführer, ein Obergefreiter aus Böblingen, war ein fronterfahrener Soldat, der sich vor dem Teufel nicht fürchtete. Im Osten hatte er schon einige Panzer im Alleingang erledigt. Der stand uns im Genick, wenn wir nicht wie ein Maulwurf in der Erde verschwanden. Monate später erkannten wir den Grund. Auch der Chef wusste, warum er den Schützen F. drei Tage lang Einsperren ließ, weil er im Gelände geschossen hat, ohne ein Ziel zu haben und das Feuer nicht freigegeben war.
Unser Schießplatz war in der Nähe von Rosoy. Der Weg dorthin war beschwerlich. War man als Schütze I eingeteilt, hatte man das um die 30 Pfund schwere MG, eine Pistole und eine Werkzeugtasche zu schleppen. Schütze II trug ein Gewehr, Reservelauf und Reserveschloss, Schütze III führte ein Gewehr und 300 Schuss MG- Munition mit sich. Sturmgebäck mit Decke, Patronentaschen, Seitengewehr, Spaten, Brotbeutel, Feldflasche, Kochgeschirr, Stahlhelm und Gasmaske gehörten zu Ausrüstung eines jeden.
15 Kilometer vor der Kaserne war ein Gelände, das uns zum gefechtsmäßigen Scharfschießen zur Verfügung stand. Man nannte es „Les Martres“. An- und Abmarsch zusammen etwa 6 Stunden. Dazu noch die Bewegung im Gelände. Da lernten wir selbst beim Marschieren in eine Art Schlaf zu verfallen. Ab und zu rief einer „Es ist so schön Soldat zu sein“, damit ja keiner wirklich einschlief. Ab und zu war auch ein „Hurra, wir verblöden!“, zu hören. Hatten wir beim Rückmarsch endlich einen Kaserneneingang mit üblichem Gesang durchschritten, mussten wir noch eine Runde im Paradeschritt absolvieren. Als das einmal nicht klappte, lies der Chef den ganzen „Sauhaufen“ in Stellung gehen und die Küche samt Speisesaal stürmen. Die MG fingen an, mit Platzpatronen zu rattern.
In ihrem Feuerschutz rückten die Schützen gruppenweise in geschlossenen Sprüngen vor. Zum Nahkampf hieß es „Seitengewehr pflanzt auf!“ Der Kasernenhof war in eine Staubwolke gehüllt. Dem Küchenbullen schlotterten die Knie. Der Kommandeur grinste zum Fenster heraus. Außerhalb der Kaserne gingen die Franzosen in Deckung.
Und wie sahen wir in der Ausbildung aus? Wie Schießbudenfiguren! Der Drillich war üblicherweise in grün, in Friedenszeiten weißlich – gräulich. Davon gab es in den Kleiderkammern noch einige Restbestände, die aufgetragen werden mussten. So kam es, dass einer im hellen, der andere im dunklen und der dritte in einer Kombination daherkamen. Richtig gepasst der der Übungsanzug selten, Ärmel zu kurz, Hose zu lang, Kittel zu eng, Hose zu weit. – hat jemand gemeckert hieß es: „Schnauze halten!“ Noch toller war die Bewaffnung: eine Gruppe hatte ein MG 38, die anderen ein MG 42 und der dritte eine Nachbildung aus Holz. So marschierten wir durch sie Straßen unserer Garnison.
Als wieder einmal die Resistance einem Kameraden die Kehle durchgeschnitten hatten, durchsuchten wir die ganze Gegend, besonders um die Kathedrale. Unsere Wut war grenzenlos und so ging schon allein wegen des passiven Verhaltens der Gegenseite manches zu Bruch.
Unser Sicherheitsdienst hatte herausgefunden, dass ein gewisser V. der Resistance angehört. Er besaß eine Villa, welche an einer Allee hinter hohen Maueren lag. Es wurde ein Kommando mit zehn Mann zusammengestellt, dem auch ich angehörte. Am 13. Oktober marschierten wir singend und in Kolonne scheinbar zufällig besagte Allee entlang. Ein Angehöriger der Feldgendarmerie, der fließend Französisch sprach, läutete in Zivil mit Baskenmütze, Sonnenbrille und lässig im Mundwinkel hängender Zigarette am Gartentor. Wir sahen, dass sich das Tor öffnete und unser, wie ein Franzose aussehender Freund, das mit einer Haube bekleidete Dienstmädchen in ein Gespräch verwickelt, bis wir näher heran waren. Auf das Kommando „Aus“ stellten wir unseren Gesang ein und stürmten durch das geöffnete Gartentor. Monsieur V. wurde gefesselt und verhört. Er gab ziemlich freche Antworten. Im Laufe des Abends kamen noch einige Gestalten an, um sich bei V. zu treffen. Diese wurden vom Dienstmädchen eingelassen. Wir nahmen sie gebührend in Empfang. Noch in der Nacht schafften wir Monsieur V. und seine Kumpane heimlich in unsere Kaserne.
Unsere Essensration war äußerst mager. Das Mittagessen bestand aus fettarmen Eintöpfen, abwechselnd mit Graupen oder Möhren. Abends gab es Kommissbrot und Dauerwurst. Bei deren Ansehen scharrten wir wie die Pferde auf dem Boden und wieherten dazu. Der Tee war undefinierbar. Einige hatten herausbekommen, dass es in der Nähe der Kaserne ein Restaurant gab, wo man ein schmackhaftes Essen bekam. Die kugelrunde Wirtin verlange jedoch viel Geld. So konnten wir gelegentlich zum Speisen gehen. Vorschriftsmäßig gingen wir nie alleine, sondern nur in kleinen Gruppen, wegen der Resistance.
Wir hatten einen in unserem Zug, wegen dessen Fehlverhalten wir ab und zu Strafexerzieren mussten oder auch Ausgangssperre bekamen. Zu diesem kam an manchen Nächten der „Kasernengeist“. Offiziell gab es dieses Unwesen nicht, es wurde aber stillschweigend geduldet. Im Dunkel der Nacht flog plötzlich viel Wasser in die Falle des Missetäters und einige Decken wurden darüber geworfen. Dann sauste Koppel hernieder, bis der „Sträfling“ vor Schmerzen schrie. Wenn der UvD aufkreuzte, war es, als sei nicht geschehen. Dieser Kamerad bekam übrigens als erster das Infanteriesturmabzeichen. Weihnachten 1943 schossen wir in unserem Übungsgelände ein Wildschwein. Der Koch verarbeitet es zu Fleischkäse. Die Portionen waren am Heiligen Abend reichlich. Der Rotwein floss in Strömen. So ziemlich alle waren besoffen. Es war ein für diesen Tag geduldeter Galgenhumor. Ein großes Vergessen.
„Urlaubsschein wann wirst du endlich mein? Ich möchte so gerne einmal nach Hause gehen, und meine liebste wieder sehen.“ Die Sehnsucht wurde erfüllt. Von Silvester 1943 bis Mitte Januar 1944 wurde uns Einsatzurlaub gewährt. Wir reisten feldmarschmäßig ausgerüstet und mit 5 Schuss Sicherheitsmunition, welche wir in der linken Brusttasche tragen mussten, mit einen Sonderzug nach Stuttgart und dann wieder nach Sens zurück. Dort ging es gleich auf Partisanenjagd. Auf dem Plateau von Langres hatten Flugzeuge Nachschub für die Resistance abgesetzt. Es musste alles schnell gehen.
Wehrmachtsfahrzeuge standen nicht zur Verfügung. So wurden alle möglichen Fahrzeuge samt Fahrer bei den Franzosen aufgetrieben. Ein Fahrzeug gehörte nach der Beschriftung einem Weinhändler. Das andere beförderte sonst Baustoffe. Das dritte war aus dem Fuhrpark der Straßenreinigung usw. Dieser bunte Haufen kam auf dem Plateau an.
Was wir fanden war nicht viel. Einige Partisanen sprengten sich in die Luft als wir sie gefangen nehmen wollten. Erschossen haben wir keinen. Durch Verhöre der wenigen Gefangenen fanden wir einen ihrer Schlupfwinkel heraus. Er lag in Sens in einem Gasthaus bei einer Brücke über die Yonne. Wir hoben ihn noch aus und verabschiedeten uns danach, zur Auffüllung der arg gebeutelten 340. Infanteriedivision im Norden der Ukraine.
Hein R. Beck