Es ist ein Werktagmorgen wie jeder andere in Schwenningen.
Alles hastet zu Fuß, mit dem Fahrrad oder mit dem Wagen der Arbeitsstätte zu. Ein Arbeiter fährt mit seinem Rad über eine belebte Kreuzung, biegt links ab und kommt zu Fall. Er liegt samt Fahrrad auf der Straße, hat sich am Knöchel erheblich verletzt und ist nicht in der Lage aus eigener Kraft auf die Beine zu kommen.
Gegenüber stehen gut zwei Dutzend Menschen vor einem Fabriktor und warten auf die Toröffnung. Niemand denkt daran, auch nur die Hände aus den Taschen zu nehmen; sie sind unbeteiligte Zuschauer. Der Verunglückte schleppt sich halb kriechend an den Straßenrand und zieht sich an der Stange eines Verkehrszeichens mühselig in die Höhe. Das Fahrrad liegt noch auf der Straße. Dutzende von Autos fahren in einem Bogen herum.
Endlich hält ein auswärtiger Fahrer, zieht das Rad an den Straßenrand und fragt den Verunglückten, wie er ihm behilflich sein könne. Dieser bittet, irgendwo im nächsten Geschäft das Rote Kreuz anzurufen und gibt ihm den erforderlichen Groschen zum telefonieren. Das Sanitätsauto kommt und bringt den Verletzten ins Krankenhaus.
Dort ist nicht etwa die erste Frage „Was fehlt Ihnen“ sondern „Haben sie einen Überweisungsschein?“ Der Verunglückte muss verneinen und erhält die Antwort „Da wird der Chef aber eine Freude haben!“ Nach mehrmaliger vergeblicher Aufforderung, es mit dem Fuß doch zu probieren, wird er mit einem Rollstuhl weiter transportiert.
Dieser Vorfall erinnert mich an ein „Gegenstück“, geschehen in Russland bei der 8. Kompanie, Infanterieregiment 470 zu Winteranfang 1941 / 1942 bei Gosteschewo, etwa 60 Kilometer südlich von Moskau.
Ein Unteroffizier war kurz zuvor aus dem Heimaturlaub zurückgekehrt und liegt schwer verwundet draußen in einem Minenfeld. Sofortige Hilfe ist nötig. Sein Kamerad vom Maschinengewehr nebenan, Unteroffizier Keck, versucht ihn zu holen. Ein Scharfschütze trifft ihn tödlich.
Nun bemüht sich der Zugführer, Feldwebel Weiß. Auch er bezahlt seine Hilfsbereitschaft mit dem Leben. Endlich kommt die Verbindung zur Artillerie zustande. Ein Sperrfeuer ermöglicht es uns, darunter auch der Kompaniechef und der Bataillonsarzt, die drei zu bergen. Der erste der draußen gelegen hatte, stirbt dann auch noch.
Solche Hilfsbereitschaft der Kameraden sollte man heute auch in anderen Situationen erwarten, bei Verkehrsunfällen, bei Feuersbrunst und Hochwasser. War es Gefühlsduselei, als Unteroffizier und Feldwebel ihr Leben einsetzten, um einen Schwerverwundeten zu bergen? Oder schielten sie etwa nach einer Auszeichnung, einem Orden? Nein, es war die Pflicht und Schuldigkeit einem Nächsten gegenüber!
Vor einigen Jahren wurde in Ludwigsburg unser Gedenkstein enthüllt. Der damalige Bataillonsarzt, Dr. Schwarzkopf, heute praktischer Arzt in Mössingen, stand neben mir, als unter den Klängen des „Guten Kameraden“ die Namen der einstigen Orte gerufen wurde, darunter auch derjenige an dem sich diese Geschichte zugetragen hat. Da erst ergriff es uns und wir weinten wie kleine Kinder. Damals – da wären wir dazu nicht fähig gewesen.
GFW