Von Ehlenz, dem letzten Ruhequartier auf deutschem Boden führt unser Marsch zum letzten Mal über die unwirtlichen Höhen der Eifel auf die luxemburgische Grenze zu. Der Tag ist sehr heiß und das ständige Bergauf – Bergab in der Eifel macht heiße Tage wahrlich nicht zu Vergnügungsreisen für uns Infanteristen. Durst haben wir alle. Deshalb sind wir den Einwohnern des deutschen Grenzortes Dasburg sehr dankbar, dass sie uns mit Tee, Kaffee oder Wasser gefüllte Eimer reichen, aus denen wir während des Marsches mit unseren Trinkbechern schöpfen können.
Unmittelbar hinter den letzten Häusern des Ortes bildet eine Brücke über den Fluss Sauer die Grenze. Wir überschreiten sie mit der Spitze am 24. Mai um 18:30 Uhr. Noch einmal gilt es eine Steigung zu überwinden, die uns nach dem schwierigen Marsch allerdings doppelt lang erscheint. Wenig später rücken wir in das erste Tagesquartier in fremdem Land ein.
Die Bürger von Marburg sprechen genau wie die Eifelbewohner in einem etwas schwermütig anmutenden Tonfall, der ihnen eigen ist. In dem Ort gibt es vorläufig auch das letzte Bier auf unserem Vormarsch. Die drei Gaststätten sind sehr bald überfüllt und der Biervorrat erschöpft. Das ist allerdings nicht sehr schlimm, denn gegen den Durst helfen im Notfall auch Trinkwasser, das es hier noch in genügender Menge gibt, und Tee oder Kaffee von der Feldküche.
In der Dämmerung kommt ein Lastwagen mit Gefangenen angefahren. Wir erfahren von dem begleitenden Soldaten dass die Gefangenen durchweg französische Offiziere eines Divisionsstabes sind. Unter ihnen sitzt auch der Divisionskommandeur, ein Generalleutnant, völlig teilnahmslos im Führerhaus des Wagens. Seine Mütze ist mit einem Tuch umwickelt. Der erste Gefangenentransport den wir sehen ist ein französischer Stab! Wir fassen das als gutes Vorzeichen für uns auf.
Weiter geht es am 25. Mai über Wintger und Allerborn. Rechts von uns sehen wir, herrlich in einem Tal liegend, das Kloster Clerf (Clervaux) – ein einzigartiges Landschaftsbild. Links der Straße liegt der Antoniushof, von dem während einer Marschpause Trinkwasser geholt wird. Hinter Allerborn führt die Straße steil aufwärts bis zur belgischen Grenze.
Sonnenglut und Straßenstaub setzen uns hart zu. Am Ende der Steigung steht zur linken der rot-weiß-schwarze Schlagbaum. Von hier ab marschieren wir auf besserer Straße und ebener Strecke über Bourcy nach Noville, dem ersten Tagesziel in Belgien das wir gegen 19:30 Uhr erreichen. Das Dörfchen ist von den meisten Einwohnern verlassen. Die Zurückgebliebenen schauen scheu und verängstigt drein, bis sie sich von unserer „Menschlichkeit“ überzeugt haben.
Seltsam erscheint uns der rasche Übergang über die Sprachgrenze. Die Verständigung bereitet uns mancherlei Schwierigkeiten. Was mit den Überresten des mehr oder weniger mühsam erlernten Schulfranzösisch nicht gesagt werden kann, muss mit Zeichen klargemacht werden. Das dabei allerlei abenteuerliche Bilder entstehen lässt sich kaum vermeiden. Hauptsache ist aber das man erreicht was man erreichen will.
Der ältere Pfarrer des Dörfchens spricht etwas deutsch und versucht damit die derzeitigen Ereignisse zu erörtern. An einen deutschen Sieg glaubt er vorläufig nicht, dazu hat er schon zu viele Nachrichten aus der „englischen Küche“ bezogen. Er ist von der Güte der französischen Soldaten und ihrer Waffen überzeugt. Diese Ansicht darf er jedem von uns gegenüber äußern.
Kurz nach Mitternacht hörten einige von uns das helle Singen eines feindlichen Flugzeugmotors über dem Dorf. Das Singen bricht plötzlich ab und gleich darauf lassen uns zwei unheimliche Schläge auffahren. Der Boden erzittert, verschiedene Gegenstände geraten ins Wanken, Gläser und Porzellan scheppern. Zwei Bomben hatten in der Nähe des Örtchens eingeschlagen. Niemals werden wir diesen ersten französischen Fliegerangriff auf unserem Vormarsch vergessen!
Am 26. Mai geht es weiter über Amberloup und St. Hubert nach Villance, der längste Tagesmarsch mit sechzig Kilometern. Schon kurz nach Noville sehen wir die ersten Spuren des Krieges: zerschnittene Telefon- und Lichtleitungen, abgeräumte Straßensperren, Pferdekadaver und zerschossene Fahrzeuge.
In Amberloup müssen wir einen Nebenweg nach St. Hubert einschlagen, da einige Tage zuvor ein Angriff gegnerischer Flieger die teilweise Zerstörung der Straße zwischen Amberloup und St. Hubert zur Folge hatte. Der Tag ist wieder sehr heiß, der Weg beschwerlich.
Wir marschieren durch einen langen Wald und rasten am späten Mittag bei dem im Bau befindlichen Klostergut Hurtebise. In der Nähe liegen zwei abgestürzte deutsche Flugzeuge. Eins davon, eine Dornier DO 117 weist mehr als 500 Einschusslöcher auf!
Die Straße ist verstopft, unser Abmarsch verzögert sich bis 18:30 Uhr. Nach einigen Kilometern kommen wir durch St. Hubert. Die Mehrzahl der Einwohner ist geflohen, das Städtchen wirkt menschenleer, jedes Haus weist Spuren des Krieges auf. Dennoch sieht man keine Bomben- oder Granateinschläge!
Kurz vor dem Ort versucht uns während der Rast beim Klostergut Hurtebise ein Flugzeug anzugreifen. Es überfliegt der Länge nach die Marschstraße der Division, wird aber von deutschen Jagdflugzeugen angegriffen. Daraufhin zieht es der schneidige Franzose doch vor, abzudrehen. Wir marschieren weiter, über einen Berg nach Noville, unserem Tagesziel. Wir finden auch dort fast keine Einwohner vor, dafür aber sinnlos verwüstete Wohnungen. Eine Arztpraxis ist völlig demoliert. Wir fragen uns immer wieder, ob diese Bilder denn wirklich noch möglich sind in einem Krieg, in dem sich Soldaten gegenüberstehen die sich als „gebildet“ bezeichnen.
Am 27. Mai marschieren wir auf guter Straße nach St. Denis, einem kleinen Dorf. In Scheunen finden wir Unterkunft. Der Tag hat uns wieder die jetzt schon gewohnten Bilder gebracht. Auf die Dauer ist der Gestank der aufgedunsenen Pferdekadaver die am Straßenrand liegen kaum noch zu ertragen. In St. Denis gibt es seit langem wieder die erste Post. Sie ist für uns, außer unseren Gedanken, die einzige Verbindung in die Heimat und wird deshalb immer mit besonderer Sehnsucht erwartet und mit großer Freude entgegengenommen. Das Dorf hat einige Angriffe englischer und französischer Flieger über sich ergehen lassen müssen. Dabei wurden einzelne Häuser zerstört und einige Menschen getötet. Seltsamerweise haben die Angriffe keinen deutschen Soldaten verwundet oder getötet, obwohl der Ort von deutschen Truppen belegt war. In welcher Eile die französischen Bomber ihre Lasten loswerden wollen, zeigt sich schon in der geringen Zielsicherheit ihrer Abwürfe: mehr als die Hälfte der nachts auf Libin und St. Denis abgeworfenen Bomben haben, weit außerhalb der Ortschaften Löcher in Äcker und Wiesen gerissen.
Am 28. Mai marschieren wir weiter in das drei Kilometer entfernte Louette-St. Pierre. Dort liegen auch der Regiments- und Divisionsstab. Wir bleiben 4 Ruhetage hier, dann marschieren wir weiter – nach Frankreich hinein. In St. Pierre sind viele Einwohner schon zurückgekehrt, die meisten Häuser sind unversehrt. Vor allem können wir Butter, Eier, sogar einige Hühner und Schweine als Verpflegungszusatz kaufen. Über den geringen Preis sind wir sehr erstaunt, aber natürlich erfreut.
Am Abmarschtag gibt es noch eine Bataillonsübung bei der Oberst Fremerey anwesend ist. Abends rücken wir ab, bis zum letzten Augenblick kennt kaum einer die Richtung. Später erfahren wir dass es bei Monthermé über die Maas geht. Der Weg dorthin führt uns über Villergie und Laroye, gegen 02:30 Uhr morgens überschreiten wir die Grenze nach Frankreich.
Max Krüger