Der unaufhaltsame Vormarsch der deutschen Divisionen durch Frankreich ist ein unvergleichbares Erlebnis.In endlosen Kolonnen ziehen wir über die waldreichen Höhen der Ardennen, ständig überholt von motorisierten Einheiten, mehrfach aufgehalten an den Kreuzungen wichtiger Nachschubstraßen, auf denen Tag und Nacht unermessliche Mengen an Material und Munition nach vorne rollen.
In den späten Abendstunden des 01. Juni 1940 überschreiten wir die französische Grenze. Die Straße senkt sich ins Maastal, das im nächtlichen Dunkel ungeheuer tief und weiträumig erscheint. Den ersten stärkeren Eindruck von den verheerenden Wirkungen des Krieges vermittelt uns Monthermé, in dem scharfer Brandgeruch durch die toten Straßen ausgebrannter Häuserviertel zieht und hinter den leeren Fensterhöhlen zerschossener Mauern der düstere Nachthimmel steht.
Nach einem Tagesbiwak und einem weiteren Nachtmarsch gelangen wir an die Wälder südlich Signy l’Abbaye, wo wir auf einem reizvollen Biwakplatz in strahlender Frühlingssonne mit verhaltener Spannung auf den Einsatzbefehl warten.
In einer sternenklaren Nacht marschieren wir nach Süden an die Front, die nicht mehr sehr weit entfernt sein kann, denn wir hören ständig ein dumpfes Grollen. Zuweilen zuckt hier und da am Horizont ein greller Schein auf und irgendwo im Gelände zerreißen kurz darauf heftige Einschläge die nächtliche Stille. Bei Thorin wir der Platz für die Feuerstellung bestimmt. Wir reiten mit dem Batterietrupp durch das zerschossenen Écly nach vorne und sitzen jenseits des Dorfes in einem Hohlweg ab, der uns auf einen flachen Höhenrücken führt. Vor uns liegt in fahler Morgendämmerung das Tal der Aisne. Auf dieser kahlen Kuppe ohne Baum und Strauch sollen wir beobachten. Der Boden besteht aus reiner Kreide. In einem Erdloch, in dem die Infanteristen hausen, ist zur Not noch Platz für zwei Beobachter. Nach dem Aufbau des Scherenfernrohres kriechen wir zurück und werden davon weiß wie die Müllergesellen.
Befehlsgemäß schießen wir uns auf das jenseitige Ufer des Aisne ein. Nachts verbessern wir unseren Beobachtungsstand und entdecken dabei eine leicht gewölbte Betonfläche, in deren Mitte eine schwere Stahlplatte eingelassen ist. Zu unserer größten Verblüffung stellen wir fest, dass es sich um einen deutschen Bunker aus dem ersten Weltkrieg handelt. Wir legen die Eingänge frei und stoßen auf einen zweckmäßig angelegten und schusssicheren Betonbunker.
Eine scheue Ehrfurcht überkommt uns bei dem Gedanken, dass wir in einen Bunker der Siegfried-Linie unserer Väter einziehen. Die Batterien schießen sich einzeln ein, während der Gegner Störungsfeuer schießt und kurze Feuerüberfälle mit ihren Einschlägen in unsere unmittelbare Nähe kommen. Damit schießen sie uns dauernd unsere Fernsprechleitungen zusammen und unsere Fernmelder müssen ständig auf Störungssuche unterwegs sein.
Der Großangriff über die Aisne soll am 09. Juni zwischen Rethel und Chateau-Porcien erfolgen.
Stundenlang liegen wir im taufeuchten Gras am Rande des Waldstücks im Aisne-Grund. Langsam weicht die fahle Dämmerung dem hellen Morgenlicht. Über die schlafenden Männer der Kompanie hinweg blicke ich zum jenseitigen Ufergebiet. Ob der Gegner wohl etwas vom Aufmarsch unserer Bataillone während der Nacht bemerkt hat? Kein Laut erhebt sich aus den Gründen, bleierne Stille lastet über der Front.
Ich schaue auf die Uhr und sehe den Kompanieführer an, der sich neben mich ins Gras gelegt hat. Durch ein kurzes Nicken bestätigt er mir, das es gleich soweit ist.
Irgendwo im Hinterland bricht ein dumpfes Grollen los, es steigert sich zu einem einzigen ungeheuren Aufbrüllen.
Gleichzeitig erhebt sich über uns in der Luft ein nie gehörter Orkan von hundertfachem Rauschen, Surren und Pfeifen. Im nächsten Augenblick steht drüben über dem Fluss eine flammende Wand von zuckenden Blitzen, Rauchsäulen und prasselnden Splittern. Als der gewaltige Sturm über uns zu brausen beginnt, richten wir uns wie gebannt auf, als aber die ersten Einschläge in unseren Ohren gellen, drücken wir uns platt auf den Boden. Wenige Minuten später erheben sich die Kompanien und stürmen in breiten Wellen durch das taufrische Aisne-Ufer.
In dichten Haufen werfen wir uns ins ufernahe Gebüsch. Unsere Artillerie verlegt ein Stück weiter seitlich, doch immer noch ist es drüben über die Aisne lebendig. Maschinengewehre rattern, von allen Seite zwitschern Geschosse über uns hinweg. Trotzdem gleiten Schlauchboote ins Wasser und paddeln mit lautem „Zu-Gleich“ über den Fluss. Die Infanteristen klettern die steile Uferböschung hinauf, zwängen sich durch dichtes Unterholz und stolpern über Granattrichter oder zersplitterte Baumstämme. Ringsherum knallt es, französische Soldaten schießen von den Bäumen herab. Aber wir haben keine Zeit uns darum zu kümmern. Nur „Vorwärts“ ist die Parole.
Am Bahndamm vor uns sammelt sich die Kompanie und vor uns liegt der Aisne-Kanal, der parallel zur Aisne verläuft. Zuerst müssen die Schlauchboote zum Übersetzen herbeigeschafft werden. Es schießt ständig, niemand weiß woher. Mit hässlichem schrillem Ton surren die Querschläger über die Schienen. Der vorgeschobene Beobachter befiehlt seinen Fernmeldern die Funkgeräte aufzubauen und Verbindung mit der Abteilung aufzunehmen. Aber die Gegenstelle versteht uns nicht, ein anderer Sender funkt auf der gleichen Frequenz dazwischen. Das kann ja heiter werden.
Zwei kleine Schlauchboote werden an den Kanal gebracht und in raschem Pendelverkehr befördern sie die ganze Kompanie und unseren Funktrupp ans andere Ufer. Unser Artilleriefeuer liegt jetzt auf den rückwärtigen Stellungen des Gegners. Im Aisne-Grund hat sich der Qualm und Pulverdampf der Detonationen zu einem undurchdringlichen Nebel verdichtet, so dass man die eigene Hand nicht mehr vor Augen sieht. Als wir aus dem Gehölz auf das freie Feld treten, empfängt uns ein strahlender Morgen. Ein Sonntag, der unvergessliche 09. Juni 1940. Es geht weiter über Böschungen und flache Hänge. Aus der Flanke und sogar von rückwärts bekommen wir Feuer aus Gebüschen und Waldstücken, die unser Gegner immer noch zäh verteidigt. Mancher Soldat stürzt blutend vornüber, aber unser Angriff wird unaufhaltsam weiter vorgetragen, um auftragsgemäß die Höhen jenseits der Aisne zu nehmen.
150 Meter vor dem nächsten Wald lasse ich an einer mit Gestrüpp bewachsenen Böschung mein Funkgerät aufbauen. Endlich klappt die Verbindung, ich bin jetzt in der Lage unterstützend einzugreifen und gebe meine Feuerkommandos durch.
Der Kompanieführer liegt ebenfalls in unserer Hecke, seine Schützengruppen rechts und links davon. Plötzlich ertönt ein gellender Ruf: „Panzer von vorne!“ Mit knirschenden Ketten und aufheulenden Motoren fahren sie auf uns zu. Eines der Feuer speienden Ungeheuer fährt bis auf 3 Meter an unsere Hecke heran. Wir haben keinerlei panzerbrechende Waffen also ducken wir uns in die Vertiefungen des Bodens während peitschende Geschosse über uns die Zweige zerfetzen.
Bei dem Feuerkommando an die Batterie behalten meine Funker die Nerven und arbeiten einwandfrei, obwohl die Panzer durch unsere Reihen fahren. Aber was ist das? Einer der Kampfwagen geht in Flammen auf, dann noch einer. Da ist wahrhaftig unsere Panzerabwehrkanone aufgefahren und leistet ganze Arbeit. Auch das Feuer unserer Artillerie liegt jetzt am Waldrand auf den Anmarschwegen der Panzer. Diese stellen den Angriff ein und weichen aus, sofern sie nicht brennen oder bewegungsunfähig geschossen sind.
Wortlos schauen wir uns an, wir sind alle bleich. Der Kompanieführer nimmt seinen Stahlhelm ab und will von mir wissen, ob seine Haare in diesen Minuten nicht grau geworden sind.
Da, unerhört! Ein Rauschen, ein schmetternder Schlag, noch einer, unaufhörlich! Artilleriefeuer schlägt haarscharf bei uns ein, Pulverdampf, sausende Splitter. Wieder pressen wir uns tief in den Boden, werden überschüttet mit Erde und Steinen. Wir hören die heran orgelnden Geschosse, warten in atemloser Beklemmung wo der nächste Einschlag erfolgt. PENG – das hat gesessen, wenige Meter vor uns. Die Zweige unserer Hecke wirbeln durcheinander, eine Ladung Sand fliegt uns ins Genick, deckt unser Funkgerät zu. Endlich ist der Feuerschlag vorüber, wir klopfen uns des Dreck von den Kleidern und wundern uns, dass wir noch leben.
Aber unsere Sanitäter haben reichlich zu tun. Immer wieder erscheinen die Melder der Zugführer und berichten über neue Ausfälle.
Allmählich geht dieser Sonntag zu Ende. Die Nacht wird ruhig, der Gegner scheint die Wälder vor uns zu räumen. Am Morgen des kommenden Tages ist die von unseren Pionieren unter Feuer gebaute Behelfsbrücke über die Aisne in Betrieb. Unsere Panzer stehen bereit um, gemäß ihrem Auftrag, aus dem Brückenkopf heraus anzutreten und den Durchbruch durch die französischen Linien zu erzwingen.
Zwischen Rethel und Château-Porcien hat sich das Schicksal der französischen Armee erfüllt: die letzte Verteidigungsstellung, die Weygand-Linie, wurde am 10. Juni 1940 durchbrochen.
Walter Schmidt, Leutnant (I. Abteilung / Artillerieregiment 260)