Gleißende Sonne liegt über dem weiten Land als wir vom Würzburger Bataillon an der Spitze unseres fränkischen Regiments am Nachmittag des 21. Juni 1940 in die Burgunderstadt Dijon einmarschieren.
Wohl alle mögen die Größe dieses Augenblicks zutiefst empfunden haben. Dijon – einen Monat nach Beginn des gigantischen Ringens, erfüllt vom hallenden Marschtritt deutscher Infanterie, heute zum ersten Mal wieder seit 1870/1871! Wir Soldaten empfinden das Geschehen nicht gerade als märchenhaft.
Vor wenigen Wochen noch hielten wir am Oberrhein zwischen Basel und Isteiner Klotz treue Wacht. Drüben am elsässischen Ufer Bunker an Bunker, Graben hinter Graben, Stützpunkt neben Stützpunkt und dahinter, natürlich verstärkt durch die Vogesen, der Festungswall der Maginot-Linie. Wie sicher mag sich unser Gegner dahinter gefühlt haben? Unentwegt und schweigend taten wir monatelang in Wachdienst, Stellungsbau und Abwehr unsere Pflicht. Tag und Nacht schweifte unser spähendes Auge nach Westen. Welche Geheimnisse mochte die französische Front für uns bereithalten? Sieben Monate offenbarte sich uns die sanfte Schönheit elsässischer Landschaft.
Unauslöschlich prägte sich so manches liebliche Bild in unsere Seele ein. Dahinter wussten wir das weite Frankreich, das seine Söhne hier an den Rhein schickte um einen unüberwindlichen Wall gegen uns aufzurichten. Vergebliches Bemühen. Und dennoch: wer von uns hätte im April auch nur zu ahnen gewagt, dass wir einige Wochen später weit im Rücken der französischen Oberrheinfront stehen und darüber hinaus noch weiter nach Süden in das schöne Burgunderland vorgedrungen sein würden.
Und doch, was unser kühnster Traum schien, ist beglückende Wirklichkeit geworden. Wir haben es mit letzter Hingabe von Mann und Ross bei unerhörten Marschleistungen geschafft. Selbst der Allerletzte von uns wusste: einmal dem Gegner Zeit lassen, ihm nicht auf den Fersen bleiben, müde werden in der Verfolgung, das alles kostete Ströme eigenen Blutes. Darum gab jeder sein letztes. Mochten die Füße eitern, Wolken von Staub und am Wegesrand stinkende Pferdekadaver uns den Atem rauben, mochte brennender Durst die Kehle quälen und Müdigkeit bis zum Umfallen die Glieder hemmen wollen, nur eine Losung gab es: Vorwärts ohne Rast und Ruh’ marschieren, marschieren.
Tag und Nacht dem geschlagenen Feinde nach, auf dessen Rückzugstraßen an Aisne, Maas und Saône entlang die Zeichen seiner beginnenden Auflösung sich stündlich mehrten.
Vor uns Panzer und motorisierte Einheiten. Sie mussten wissen: wir sind nicht allen, hinter uns folgt die Infanterie, bereit jeden Widerstand zu brechen.
So kommt der Tag von Dijon heran. Wir nähern uns von Langres kommend der Stadt. Hier gibt es für uns nichts mehr zu tun. Der Widerstand ist vollends gebrochen. Überall hat der Gegner nur noch halbe Arbeit verrichten können. Zur Verteidigung war ihm keine Zeit mehr geblieben. Am Waldes- und Heckensaum, an Straßen- und Ortsrändern finden sich vom Gegner zurückgelassene, teilweise gut erhaltene, teilweise beschädigte, bewegungsunfähige oder ausgebrannte Panzer, Autos, Geschütze und sonstige Wagen aller Art. Daneben Stapel von Munition und Nachrichtengerät, Dazwischen wirr herumliegende Uniformen, da und dort auch verstreut liegende Habseligkeiten geflohener Zivilisten neben zusammengebrochener Bauernkarren.
Immer mehr schwillt der Strom zurückflutender Flüchtlinge. Zu Fuß, die meisten jedoch mit dem Fahrrad, auf Pferdefuhrwerken oder in Autos, suchen die Armen den Weg zurück in ihre verödete Heimat, eingekeilt in endlose deutsche Fahrzeugkolonnen, am Straßenrand oft lange wartend bis die Strecke für wenige Augenblicke wieder für sie frei ist. Ein erbärmliches Bild! Das ist dem deutschen Volk erspart geblieben. Menschen in Elend, ohne Heimat, das Antlitz gezeichnet von Qual und Sorge um Haus und Hof, stumme und doch beredte Zeugen ihres Unglücks.
Ein überladener Bauernwagen fährt an mir vorüber. Wird’s das Pferd schaffen? Wertvolles und Unnützes, beim Auszug aus der Heimat in aller Eile zusammengerafft sind auf den Wagen aufgeladen. Obendrauf kauern Frauen und Kinder. Ein Wort aus Schillers „Glocke“ kommt mir in den Sinn, als der Bauer einen musternden Blick über den Wagen gleiten lässt: „Er zählt die Häupter seiner Lieben und sieh, es fehlt kein teures Haupt.“ Aber auch die guten Freunde des Hauses – Hund und Kanarienvogel – dürfen nicht fehlen.
Dort ein älterer Mann zu Fuß, in abgerissenem Gewandt. Schwer setzt ihm die Tageshitze zu. Wo mag seine Hütte stehen? Vielleicht viele hundert Kilometer entfernt? Aus seinem Gesicht spricht die Trostlosigkeit eines Flüchtlings. Und doch drängt auch ihn jene unsichtbare Macht, die Liebe zur eigenen Scholle, vorwärts durch Staub und Sonnenglut, über Höhen und Täler hinweg. Wie viele Flüchtlinge handelten doch unüberlegt! Wären sie geblieben, deutsche Soldaten hätten ihnen nichts zu Leide getan. Der Strudel der Ereignisse hat selbst viele Luxemburger bis hierhin mit fortgerissen. Nur zum Teil hatten sie, französischem Zwang gehorchend, ihre Wohnstätten verlassen müssen. Viele dagegen sind das Opfer jahrelanger Verhetzung geworden. Eine Frau schiebt einen Kinderwagen vor sich her, schleppt sich voran. Sie grüßt mich in deutscher Sprache, gibt sich als Luxemburgerin aus. Dem blondhaarigen Kinde werfe ich vom Pferde aus ein paar Erfrischungsbonbons zu. Ein dankbarer Blick der Frau streift mich. Ich frage sie: „Warum sind sie nicht zu Hause geblieben?“ Überzeugend klingt die Antwort: „Oh, mein Herr wir haben die größte Dummheit unseres Lebens begangen. Wir glaubten den Franzosen und hatten Angst vor den Deutschen.“ So muss auch diese Frau ihren Irrwahn büßen.
Endlich, nach langem Marsch hält das Bataillon auf einer Höhe nördlich von Dijon. Rast! Ein herrliches Landschaftsbild tut sich dem entzückten Auge auf. Zur Rechten ziehen die rebenbewachsenen Hänge der Cote d’Or in sanften Linien südwärts, in das Rebenmeer hinein gebettet, grüßen uns freundlich anmutende Dörfer, die schon aus der Ferne Gepflegtheit und Wohlstand erkennen lassen. Ich glaube zu träumen! Das Bild meiner pfälzischen Heimat steigt in mir auf. Sind das nicht die gleichen waldgekrönten Höhen, die gleichen Hänge im Sonnenlicht, die gleichen lieblichen Weinorte? Wie überraschend doch die fast völlige Übereinstimmung der natürlichen Heiterkeit dieser gesegneten Landschaft mit dem Weinbaugebiet der Haardt. Und erst der köstliche Burgunder! Würdig stellt er sich neben die erlesensten Spitzenweine meiner Heimat. Auf unseren Märschen hätten wir ihn nicht missen mögen. Sein Feuer und seine edle Kraft sollten wir jedoch noch mehr schätzen lernen.
Im Osten und Südosten breitet sich vor uns offenes Land aus. Eine weite Ebene mit saftigen Weiden und Wiesen, soweit das Auge reicht. Wir schauen in das Tal der Saône. Drüben in der Ferne wissen wir Belfort und Besançon. Burgundische Pforte! Ich versuche meinen Soldaten die Größe dieser Stunde nahe zu bringen, ihnen Augen und Ohren zu öffnen all den gewaltigen Eindrücken, die auf uns eindringen. Ich erzähle ihnen von König Ariovist und seinen Sueben auf der Landsuche, von jenem gewaltigen Zusammenprall dieses Germanenvolkes mit den Römern, von jener großen Entscheidungsschlacht im Elsass im Jahre 58 vor Christus und von dem tragischen Ausgang dieser Schlacht. Ich vergesse nicht die Parallele lebendiger Gegenwart zu ziehen und lenke schließlich die Betrachtung auf Burgund, das einst Bestandteil des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation gewesen war und später an Frankreich viel.
Unmittelbar im Süden vor uns, schon in die Ebene hinein gelagert, erstreckt sich die Hauptstadt Burgunds, Dijon.
Auch hier stehen wir auf geschichtsträchtigem Boden. 1870/71 sah diese Stadt zum letzten Male deutsche Soldaten auf ihren Gefilden und in ihren Mauern. Hier war es, wo den Franzosen nach erbittertem Kampfe, unter einem Berg von gefallenen deutschen Soldaten die Fahne der 61er, als einzige von allen deutschen Fahnen, in die Hände fiel. Wie viele aus dieser Epoche werden in Dijon noch unter den Lebenden sein? Diese wenigen hätten sich das heutige Wiedersehen wohl kaum träumen lassen.
Ich werde zum Bataillonskommandeur, Herrn Oberstleutnant Reinhard, befohlen. Dort erfahre ich, dass unser Würzburger Bataillon die Ehre hat an der Spitze des Regiments in Dijon einzuziehen. Ein Vorbeimarsch vor dem Herrn Divisionskommandeur in der Hauptstraße der Stadt soll dem Tag eine festliche Prägung geben. Rasch macht sich meine Kompanie fertig und bringt sich in Form. Freudiger Stolz leuchtet aus allen Gesichtern denn noch hat Dijon keine deutsche Infanterie zu sehen bekommen, wir sind die ersten. So wollen wir unsere Glieder zusammenreißen und frischen Mutes dem Herrn General ins Auge sehen. Wir wissen: unser Bataillon muss den Franzosen zum lebendigen Begriff werden für deutsche Disziplin, Zucht, Kraft und Wucht, für deutsche Art und deutschen Geist.
Das Bataillon tritt an. Voraus die Schützenkompanien, dahinter meine eigene, die Maschinengewehrkompanie. Froher Marschgesang ertönt. Bald ist der Stadtrand erreicht. Vorbei an im letzten Augenblick nur noch notdürftig angelegten, jedoch nicht mehr vollendeten Straßensperren nimmt die Truppe ihren Weg. Auf den Bürgersteigen, an den Türen und Fenstern, überall stehen Gruppen von Zivilisten, die mit Staunen und Bewunderung das ungewöhnliche militärische Schauspiel über sich ergehen lassen. Doch was ist das? Zu meiner Linken bemerke ich eine seltsame Ansammlung von Frauen vor einem großen Hoftor. Der Grund ist leicht zu erraten: in einer französischen Kaserne wimmelt es vor Gefangenen. Es mögen wohl Tausende sein. Angst, Sorge und Hoffnung haben die Frauen hierher getrieben. Sie suchen ihre Männer. Die Wachtposten am Eingang der Kaserne können sich des Andrangs kaum erwehren. Eine junge Frau, ein Kind auf dem Arm, reicht einem Posten einen Zettel, der Wohl den Namen ihres Mannes enthalten mag. Wird ihr das Glück hold sein? In diesem Augenblick wünsche ich es den Geängstigten von ganzem Herzen. Unzählig viele Augenpaare aus Kasernenhof und Mannschaftsstuben sind auf uns Vorüberziehende gerichtet. Wie gelähmt stehen die Gefangenen dem Geschehen gegenüber. Noch vermögen sie den Ablauf der Dinge und die Tragweite unseres Sieges nicht zu ermessen. Nie werde ich den fassungslosen Blick eines Gefangenen loswerden, der vom Fenster einer Kasernenstube aus Zeuge unseres siegreichen Einzuges wurde.
Bald umfängt uns die innere Stadt. Sie macht einen friedensmäßigen Eindruck. Durch breite, schön gepflegte, baumbeschattete und volksbelebte Straßen, umsäumt von stattlichen Häusern, geht der Marsch. Welch wohltuender Gegensatz zu all den zahllosen bisher geschauten Bildern von der Verlotterung und dem Verfall. Wir schwenken in eine Straße ein, die den Blick auf einen schönen, weiten Platz freigibt. Eherner Soldatengesang schmettert aus Hunderten von Kehlen:
„Graue Kolonnen ziehen in der Sonne
müde durch Heide und Sand!
Neben der Straße blühen im Rasen
Blumen am Wegesrand!
Blumen am Wege wie blüht ihr so schön,
aber wir dürfen nicht stille stehen,
denn wir marschieren in Feindesland.“
Da ertönt aus der Ferne der Ruf: „Singen beenden!“ Ich reite an der Spitze meiner Kompanie. Etwa 75 Meter vor mir hat der Divisionskommandeur, Herr Generalleutnant Schmidt, auf dem rechten Bürgersteig Aufstellung genommen um den Vorbeimarsch des Regiments abzunehmen. Neben ihm steht der Regimentskommandeur, Oberst Fremerey. Gleich ist es soweit: „12. Kompanie! Achtung! Augen rechts!“ Wir marschieren am Kommandeur der 260. Infanteriedivision vorbei! Jeder von uns spürt es: sein gestrenges Auge erfasst jeden einzelnen, ihm entgeht nichts. Aber unter uns ist Keiner der in diesem Augenblick versagt. Wer von den Umstehenden hätte uns die ausgestandenen ungeheuren Strapazen anzusehen vermocht? Wir marschieren weiter, stolz und würdig, an der zahlreichen, sich auf Straßen und Plätzen aufhaltenden französischen Bevölkerung vorbei, die zum ersten Mal den Marschtritt und den Gesang deutscher Infanterie vernimmt.
Alle Blicke sind wie gebannt auf uns gerichtet. Wie viele unter ihnen werden in diesem Augenblick ihre Vorstellung über deutsches Soldatentum zu Grabe getragen haben. Bei aller Freude kann ich jedoch ein Gefühl heftiger Bitterkeit nicht unterdrücken. Ich denke an eigenes Leid, das mir die Franzosen in der Zeit der Rheinlandbesetzung zugefügt haben.
Kaum haben wir den großen Platz hinter uns, taucht vor uns eine Abteilung französischer Gefangener auf. Entwaffnet, erschöpft, stumm, den Blick gesenkt und voller Scham ziehen sie in entgegen gesetzter Richtung an uns vorbei, durch das Spalier ihrer Landsleute. Diese schweigen und sind wohl aufs tiefste erschüttert, an dem sich ihrem Auge bietenden krassen Gegensatz von Sieger und besiegten. Sie müssen die dramatische Wendung so unmittelbar erleben.
Wir aber lenken unsere Schritte singend zur Stadt hinaus, dem Marschziel entgegen, mit dem erhebenden Bewusstsein, Waffenträger Deutschlands zu sein.
Hauptmann Walther Theiß