Das Bataillon ist heute, am 17. Juni 1940, den neunten Tag auf dem Marsch.
Es geht von Chevillon, streckenweise durch das Marne-Tal, weiter nach Süden. Tagesziel ist Rimaucourt. Alles sehnt sich nach einem Ruhetag, aber der soll noch nicht kommen. Das Regiment soll am folgenden Tag in vorderster Linie eingesetzt werden, das III. Bataillon an der Spitze. Noch während die Truppe auf dem Marsch ist, erhält der Kommandeur den Auftrag den Weg für den nächsten Tag zu erkunden.
Das Regiment hat dazu den Kübelwagen zur Verfügung gestellt. Ihm sollen der Kraftwagen des Kommandeurs und ein Motorrad folgen. Neben dem Kommandeur und den Fahrern nehmen ein Unteroffizier und drei Mann zur Sicherung an der Erkundung teil.
Bei einbrechender Dämmerung wird Rimaucourt in Richtung Andelot verlassen. Schon bald gibt es die erste Unterbrechung: eine Gruppe französischer Soldaten ohne Waffen – es sind etwa 100 Mann – geht an uns vorüber. Kein deutscher Posten begleitet sie. Wir halten, der Kommandeur befragt einige von ihnen. Sie antworten Deutsch, es sind meist Elsässer und Lothringer: „Von diesen läuft keiner weg. Wir sollen nach Andelot, dort werden wir verpflegt. Wir haben Schwerverwundete bei uns.“ Sie gehen ohne Bewachung weiter, wir setzen unsere Fahrt fort.
Kurz nach Andelot biegt links der Weg von der Hauptstraße ab nach Cirey les Mareilles. Dorthin müssen wir weiter. Es ist inzwischen Nacht geworden. Nur gut, das es mondhell ist. Schon am Eingang des Ortes ist eine Sperre, die aus Wagen, Maschinen, Steinen und Stangen gebaut ist, zu passieren. Drei Barrieren sind hintereinander und sie sind gerade soweit aufgerissen, dass die Fahrzeuge hindurch schlüpfen können. Die Ortschaft zeigt heftige Kampfspuren. Mauern sind eingestürzt, Dächer zusammengebrochen. Kaum eine Tür oder Fenster sind ganz. Verrußte Balken und Wände stehen heraus. Nichts Lebendes rührt sich. Nur in einigen zusammengefallenen Häusern knistert noch die Glut und der Brunnen in der Seitenstraße plätschert. Auf einem Platz mitten im Dorf stehen kleine Geschütze und Munitionskarren, die die französischen Soldaten zurückgelassen haben. Die Rohre und Räder blitzen im Mondlicht. Wir müssen aussteigen und nach dem Weg sehen. Es ist ganz schön schauerlich in dieser nächtlichen Öde.
Dann geht es weiter nach Mareilles. Auch hier müssen erst Sperren passiert werden.
Gleich dahinter treffen wir auf deutsche Soldaten, Panzerjäger, die vor wenigen Stunden das Dorf kampflos besetzten. Hinter einem Zaun droht noch einen französische PAK, Daneben an einer Stange flattert ein weißer Fetzen, das Zeichen der Übergabe. Überall, an Häusern, am Kirchturm hängen noch die weißen Tücher. Wir versuchen vergeblich, in dem Ort Angaben über die Beschaffenheit des weiteren Weges und über eventuelle gegnerische Besetzung des vor uns liegenden Waldes zu bekommen. Also muss die Fahrt nach Le Puits-des Mèzes fortgesetzt werden. Der Weg führt mitten durch einen großen Wald.
Unsere ersten beiden Versuche, an den Waldrand zu kommen, missglücken. Bei ersten Mal biegt der Weg in falscher Richtung ab, beim zweiten Mal bleiben wir auf einem Anstieg stecken, der mit Geröll übersät ist. Hier kämen Pferde und Fahrzeuge nicht weiter. Wir fahren nach Mareilles zurück. Pkw und Krad werden hier zurückgelassen. Im Kübelwagen wir ein Bauer aus dem Ort mitgenommen. Es gibt lange Verhandlungen und Beschwörungen, bevor wir zur Abfahrt bereit sind. Die Frau hat Sorge um ihren Mann. Der Kommandeur verspricht, ihn in einer Stunde wieder heil vor dem Hause abzuliefern. Das beruhigt ein wenig. Aber beide haben Angst, man merkt es ihnen deutlich an.
Mit diesem ortskundigen Führer sind wir bald auf der richtigen Fährte. Zuerst geht es über Halden mit tiefen Fahrspuren zum Wald. Und dann führt der Weg in gerader Richtung etwa 4 Kilometer durch diesen. Die Schneise ist gerade so breit, das der Wagen hindurch fahren kann. Das dichte Unterholz reicht bis an die Fahrspur. Wir plumpsen in Löcher uns springen über Wurzeln. Äste schlagen gegen die Windschutzscheibe. Vorne beim Fahrer sitzt der Oberstleutnant, hinten unser „requirierter“ Franzose, der Unteroffizier und ein Mann.
Einer muss auf dem Trittbrett stehen, für alle reicht der Platz nicht. Es ist eine Fahrt ins Ungewisse. Die dichte Bewachsung gäbe dem Gegner jeden erdenklichen Vorteil. Wir sind wachsam! Trotz des Motorengeräusches entgeht uns kein Knacken. Wir beobachten jeden Holzstoß und jeden Busch. Außerdem achten wir auf den Weg, ob er für den weiteren Vormarsch geeignet ist. Die Fahrt scheint uns unendlich lange. Da endet unvermutet der Wald. Deutsche Posten halten uns an. Wir nennen das Kennwort und könne in das gesuchte Les Puits-des Mèzes fahren. Dort treffen wir die Männer des Infanterieregiments 55. Der Kommandeur kennt ihren Führer und erhält von ihm Auskunft über den weiteren Weg.
Damit ist unser Auftrag erfüllt. Der Franzose wird abgeliefert, seine Frau nimmt ihn mit Dank entgegen. Unsere übrigen Begleiter hängen sich wieder an, es geht zurück nach Rimaucourt.
Am 18. Juni marschiert das verstärkte Bataillon auf dem erkundeten Weg. Bei Tag hat alles wieder ein anderes Gesicht: der unheimliche Wald erweist sich als angenehmer Schattenspender.
Die Trümmer von Cirey beleben Hasen, Ferkel und andere Haustiere, die nun freien Lauf haben.
Aber auch das Leid wird deutlicher sichtbar. Schon am Ortseingang stoßen wir auf einen toten Franzosen, einen stummen Zeugen der heftigen Kämpfe die hier geführt wurden. Bei der Ankunft in Les Puits-des Mèzes sind Mannschaften und Pferde von dem Marsch bei der großen Hitze schon ziemlich erschöpft. Aber bei der kurzen Rast im Ort, bei der die Pferde getränkt und abgekühlt werden, treffen viele der Männer Bekannte unter den 55ern. Da gibt es ein Grüßen und Fragen. Manch einer ist freilich nicht mehr unter den Gesuchten. Das unerwartete Zusammentreffen mit den alten Kameraden gibt neuen Schwung. In Biesles, dem nächsten Ort den wir durchqueren, noch einmal das gleiche Bild. Auch hier ein Winken und Rufen und frohe Gesichter.
Hier hat unsere Marschgruppe die vordersten Teile der Infanterie erreicht. Wir marschieren nun in vorderster Linie! Aber in ganz anderer Form als wir uns das vorher dachten. Kolonnen von Kraftfahrzeugen brausen an uns vorüber. Weit und breit ist kein Feind, der Widerstand leistet. Dagegen treffen wir auf französische Versprengte und Deserteure in Uniform oder Zivil, mit und ohne Waffen. Unsere Aufgabe kann es nicht mehr sein hier noch letzten gegnerischen Widerstand zu brechen, sondern nur noch die letzte Möglichkeit eines Zusammenschlusses gegnerischer Kräfte zu verhindern. Das kommt schon an diesem Marschtag deutlich zum Ausdruck.
unbekannter Autor