Heute ist der 19.06.1940. Seit Wochen schiebt sich unser Infanterieregiment 480 brennend auf den ersten Einsatz ins Herz Frankreichs vor.
Dabei werden wir in den kurzen Schlafpausen in der Nähe von Noville von Bombenabwürfen geweckt, begegnen Verwundetentransporten bei Signy l’Abbaye, beobachten Aufklärungsflieger, sehen nächtliche Artilleriekämpfe bei Serry, lassen Panzerformationen an uns vorbeirollen, überholen in Stellung gehende, schwere Artillerie, ziehen durch brennende zerstörte Dörfer in denen tags- oft nur Stunden zuvor noch harte Straßenkämpfe stattfanden, überqueren die Aisne, den Kanal, sind erschüttert über die Kämpfe bei Réthel, ergrimmt beim Anblick der endlosen Gefangenenkolonnen, werden ernst angesichts des gewaltigen Marne-Schlachtfeldes von 1914/18 und des Totengartens von Souain und nachdenklich beim Anblick der frisch aufgeworfenen Heldenhügel. Trotz dieser gewaltigen Eindrücke sind wir unbefriedigt – wo bleibt die Feindberührung?
Unbarmherzig brennt die Sonne und lässt in Staubwolken die schweißtriefenden Körper der Schützenkompanien verschwinden. Mit Zentnerlast beschwert wälzt sich das III. Bataillon nach den Gewittergüssen durch den aufgeweichten Schlammboden der Champagne vorwärts. Mann, Ross und Wagen ächzen, schäumen und knirschen. Die Körper schreien nach neuer Kraft. Die Kehlen sind trocken, Wein ist kein Wasser. Der Champagne-Staub will uns ersticken, aber ein unbändiger Vorwärtsdrang und zäher Wille beseelt die marschierenden Kolonnen. Am nächtlichen Himmel glühen die Sterne, im Schein des Mondes erkennt der Kompanieführer in der Ferne den Park und das Schloss Rimaucourt. „Leute, wir haben es geschafft, unser Ziel ist erreicht!“ Ein Aufatmen geht durch alle Züge. Die Körper straffen sich und die letzten Kräfte werden nach 47 Kilometer Marschleistung gewaltsam gesammelt und gespannt. Mit einem Ruck beleben sich die verharschten Gesichter. Die ausgetrockneten Kehlen stoßen harte, doch frohe Töne hervor. Befriedigung und Stolz schimmern hinter den beißenden Augen: Sieger auf der Vormarschstraße!
Das Dunkel des Parks nimmt die Kompanien auf. Das Vorauskommando, das im Laufe des späten Nachmittags eintraf, hat einen Verteilungsplan für Stab, Mannschaften, Pferde und Wagenpark festgelegt und übernimmt jetzt die Führung und Einweisung der Truppe. Taschenlampen blinken kurz auf, Befehle hallen durch die Nacht. Wagenführer und Beifahrer treiben die erschöpften Pferde zum Aufbieten der letzten Kräfte an. Die Wagen stehen, die Feldküche rüstet schon zur Tee- und Abendkostausgabe. Es ist 02:00 Uhr in der Früh! Da und dort fallen harte Worte denn mancher Infanterist stolpert in der Dunkelheit über die müden Leiber seiner Kameraden die dort hinfallen ließen, wo sie halt machen mussten. Selbst die Offiziere lehnen Ortsunterkünfte ab.
Es wird befohlen, dass jeder Gruppenführer den Essenempfang und die Esseneinnahme seiner Soldaten meldet. Das ist notwendig, denn die müden Glieder können sich kaum aufraffen zu dieser sonst so wichtigen Soldatentätigkeit. Hunger und Durst sind vergessen, der Schlaf verlangt unumstößlich sein Recht. Und doch – ein Befehl ist dem Soldaten heilig! Er reißt sich zusammen und gibt seinem Körper die Nahrung die er braucht, will er morgen wieder aushalten im Kampf gegen Straße und Staub. Es wird nur wenig gesprochen. Nur ein Raunen und Murmeln geht durch den Kompanieabschnitt. Was es seit Wochen nicht mehr gab: keine Zeltplane wird mit anderen zum Gemeinschaftszelt zusammengefügt. Jeder hat nur ein Bestreben – hinlegen, nichts mehr sehen und hören. Der Spieß hat Verständnis für seine braven Leutchen: „Tapfer haben sie sich geschlagen, meine Prachtkerle!“ Der Kompanieführer entgegnet: „Sie haben Ungeheures geschafft!“ Ruhe verdient…Doch, es muss sein, um 06:00 Uhr Wecken, um 07:00 Uhr Abmarsch. Morgen Feindberührung! Auf diesen Tag haben diese müden Leiber, die jetzt todmüde und regungslos im Gras liegen, gewartet. Im Mondschein wacht im Hintergrund ein Posten. Er ahnt das morgige Geschehen, nimmt es auf, träumt nach der Ablösung von einem Spähtruppunternehmen, macht viele Gefangene, sieht sich beglückwünscht von seinen Kameraden und kämpft – mit dem Schlaf.
Soldatenhände rütteln ihn wach. Er sieht entgeistert um sich: „Meine Gefangenen …?“
„Ja“ sagt Heribert „da drüben über dem Bach liegen schon viele Hunderte. Aber nicht von uns. Überhaupt, weißt du schon – heute kommt unser Einsatz!“
Der Geist wird langsam klar. Das kalte Wasser im Gesicht macht wach, der heiße Morgenkaffee belebt den durch die Nachtkälte schauernden Körper. Die Viertelstunden verfliegen.
„Fertigmachen!“ Decken und Mäntel werden verladen, Zeltplanen zum Sturmgepäck marschbereit umgehängt. Die Marschausrüstung wird liebevoll gestreichelt, und die „Braut“ mit männlichem Ruck-Zuck auf die Schulter gehoben. Sie hat’s je immer besser wie der Mann. Dieser erzwingt und ringt, sie wird auf Händen getragen. Trotz des Vierstundenschlafes steht die Kompanie jetzt frisch in Reih‘ und Glied. Gewaltsam werden die schmerzenden Glieder eingerenkt, die noch schlummernde Müdigkeit gebannt, die da und dort aufsteigende Mutlosigkeit schweigend hinuntergewürgt. „Kompanie – ohne Tritt – Marsch!“ Mechanisch fädelt sich die 10. Kompanie in den großen Bataillons- beziehungsweise Regimentsverband ein und verlässt singend Park und Ortschaft. Schon ist der erste Höhenanstieg im harten Schwung erreicht, ein Besinnen beim kurzen Halt: FEINDBERÜHRUNG!
Vielleicht war das die letzte Nacht im Park von Rimaucourt.
unbekannter Autor