In den späten Abendstunden formierte sich das Bataillon zum Weitermarsch nach Lonny.
In dieser Nacht des 2. Juni sollten wir die belgisch-französische Grenze überqueren und die Maas überschreiten, die sich hier ein tiefes Tal in die Hänge der Ardennen gegraben und damit dem Feind ideale natürliche Verteidigungslinien geschaffen hatte.
Wahrscheinlich würde es nach dem Übergang für uns Gefechte geben. Tausend Gedanken zogen mir beim Klang dieses Namens durch den Kopf, die Maas, Grenzfluss der Deutschen im Lied Hoffmanns von Fallersleben – sollte sie Schicksalswende bedeuten, bevor man den Fuß hinübersetzen konnte ins Herzland des Feindes ?
Zuvor waren unsere Panzer hinüber gebraust und die Sturmtrupps der vor uns liegenden Infanterieregimenter hatten am jenseitigen Ufer schon festen Fuß fassen können. Man munkelte allerdings von starken Widerstandsnestern, die die Franzosen, Meister der Befestigungskunst, in monatelanger zäher Arbeit am Maasufer und überall auf den steil dahinter ansteigenden Höhen in breitester Front angelegt und zu einer Art Maginot-Linie ausgebaut haben sollten.
Vor 2 Tagen hatten hier noch heftige und erbitterte Kämpfe um den Flussübergang stattgefunden. Ob aber der Durchstoß durch diese Zone des Todes gelungen war, davon wusste man in der Truppe so gut wie nichts, monoton hallte der Marschtritt der Kolonnen durch die Nacht.
Villergie – Laroye – verschlafene Ardennennester in wunderbarer Gebirgslandschaft. Steil senkte sich nun die Straße ins Tal, erstes Morgengrauen hing über den Bergen, man konnte schon die Gegend erkennen, Einzelheiten in den öden und verwüsteten Straßenzeilen, durch die unsere Marschstraße führte. Wir standen kurz vor Monthermé, dem französischen Grenzstädtchen, wo die Eisenbahnlinie und Straße über den Fluss führen. Hier sollten wir den Übergang vollziehen.
Der Marsch durch die geräumte und teilweise zerstörte Stadt wird mir für immer unvergesslich bleiben. Es ist etwas seltsames, wie Leben mit einem Schlage weg und ausgewischt ist. Unheimlich empfängt dich die Stille, öde leere Fensteraugen starren auf dich herab, halb verbrannte, verkohlte Dachsparren strecken sich anklagend in das Grau des Morgens, Ziegel, Schieferplatten liegen überall umher. Verputz und abgefallenes Mauerwerk zerbröckeln unter deinem eiligen Fuß – allenthalben Zerstörung und Vernichtung.
Monthermé war eine tote Stadt, nur die Patrouillen der Feldgendarmerie und eilige Kradmelder begegneten uns, als das Regiment in langer Schlange vorwärts zog. Unerträglich lastete die Stille. Landser einer anderen Kompanie hatten aus einem der zerstörten, muffig riechenden Häuser ein elektrisches Klavier hervor gezerrt und neben der Marschstraße aufgestellt. Seine zitternden, vibrierenden Klänge französischer Tingeltangelmusik konnten nicht die Stimmung heben, sie versanken hinter der ersten Mauer, um die der Marsch bog. Jeder einzelne fühlte die Eigenart der Stunde, die Trostlosigkeit der Verwüstung, angewidert wandte sich das Auge vom stumpfen Bild der Zerstörung.
Wie reich dagegen Landschaft und Umgebung der vernichteten Stadt! Mit verschwenderischer Fülle hatte die Natur durch den Frühsommer Berg und Tal mit üppigen Grün überzogen, mit Büschen, Bäumen und Sträuchern, in deren Wogen die ausgebrannten Ruinen versanken. Hier sahen wir ihn auch zum ersten Mal den eilenden schicksalhaften Fluss, sahen seien breiten Wasser smaragdgrün dahin eilend und aufschäumend an den gesprengten und zerbrochenen Pfeilern der großen Brücke, die der Franzose bei unserem Anmarsch gesprengt und unbenutzbar gemacht hatte.
In sanfter Krümmung bog er hier nach Westen, einen wunderbaren Ausblick auf Tal und Siedlung freigebend. Drüben am jenseitigen Ufer stieg der Berg so steil hinan, wie wir ihn eben herabgestiegen waren. Dort musste sich die Hauptwiderstandslinie des Feindes befinden. 150 Meter stromabwärts der gesprengten Brücke hatten deutsche Pioniere einen Behelfsübergang gezimmert, über den sich jetzt Kompanie um Kompanie, Bataillon um Bataillon ergoss.
Unser „Hurra“ galt dem Stabsregimentskommandeur, Oberst Fremerey, der an der Übergangsstelle stand und das Übersetzen der Truppen beobachtete. Es war ein heiliges und zugleich erhabenes Gefühl, unter den Soldaten zu sein, die hier den Strom überschritten, um den Vormarsch und mit ihm die deutschen Farben weiter in das Land des Gegners zu tragen.
Wir ahnten beim Überschreiten dunkel, dass die Stunde des Sieges uns gehören würde. Wir ahnten es, als wir nach Verlassen des Flusses die eroberten Feldstellungen und Schlupfwinkel des Gegners sahen, die deutscher Angriffsgeist zerbrochen hatte.
Für uns war nichts mehr zu tun. Überall gähnten leer die Gräben und Unterstände, die Schützenlöcher und ausgehobenen MG-Nester, zerschlagen von den Fliegern, nieder getrommelt von der Artillerie, genommen von der Infanterie hatten sie den Ansturm nicht aushalten können.
Hier war es jetzt ruhig geworden und die Vögel sangen wie immer im Unterholz, wo vor einigen Tagen Schlachtlärm und Kampfgetöse die Luft erfüllte. Nur weggeworfene und verlorene französische Ausrüstungsgegenstände, gegurtete MG-Munition, zerbrochene Gewehre, Trampelpfade und Drahtverhau – all das erinnerte noch an das dramatische Geschehen. In wahnsinniger Eile mussten die Franzosen geflüchtet sein, links und rechts in den Straßengräben lagen ihre Automobile, Personen und Lastkraftwagen, versehen mit dem Zeichen der französischen Elitetruppen, den Autos der Kolonialinfanterie. Je höher wir stiegen, desto stärker mehrten sich die Anzeichen kopfloser Flucht. Zurückgelassene Geschütze, zerstörte Panzerfahrzeuge, ganze Stapel von Artilleriemunition aller Kaliber und darüber der uns schon so vertraute stinkende Geruch verwesender, gefallener Pferde, die der Wald mit seinem Grün gnädig unseren Blicken entzog. Nichts Lebendiges zeigte sich, wir waren durch die starke Verteidigungszone des Feindes geschritten ohne einen Schuss gehört oder getan zu haben.
Es war uns allen unbegreiflich und wie ein Traum. Wir hatten einen Fluss überschritten den die Franzosen mit ihrem Herzblut verteidigen wollten, wir hatten feindliche Stellungen hinter uns gelassen, die eine Armee aufhalten und vernichten sollten. Wir wussten jetzt, dass wir siegen würden. Vergessen waren alle Strapazen, als wir um 11:15 Uhr Lonny erreichten.
aus den Erinnerungen der 9. / Infanterieregiment 480