Nach den drei erbittert schweren Kampftagen bei Wibli an der Desna in denen unser Kompanieführer, Leutnant Koch, gefallen ist, wurde unser Zugführer des I. Zuges – Leutnant Dr. Kurt Raff – mit der Führung der 3. Kompanie / Infanterieregiment 470 beauftragt.
Dieser Offizier war der richtige Mann um weiterhin die Geschicke der schon stark zusammengeschmolzenen Kompanie in die Hand zu nehmen. Da wir ohnehin in unserem Hauptfeldwebel Karl Faiß aus Ludwigsburg eine treu sorgende „Mutter der Kompanie“ hatten, lag also die militärische und wirtschaftliche Führung der „Dritten“ in denkbar besten Händen. Es konnte kaum noch etwas schief gehen.
Der Wunsch vieler Kompanieangehöriger Leutnant Raff als Chef zu haben, war Wirklichkeit geworden. Er war ein ehrlicher, offener Charakter, jederzeit vorbildlich und hilfsbereit. Er wurde von jedem Mann und Unteroffizier geachtet und verehrt, jeder seiner Untergebenen ging für ihn buchstäblich durchs Feuer. Seine wohl überlegten Befehle wurden von jedem Angehörigen der 3. Kompanie ohne jegliches Bedenken befolgt. Er war in jeder Beziehung für uns ein Vorbild. Seine Führungseigenschaften waren mustergültig und bewunderungswürdig.
Immer war er ein Kamerad unter Kameraden. Man konnte bei ihm nicht nur in soldatischen Angelegenheiten, sondern auch in menschlichen Dingen holen und wurde auf den richtigen Weg gewiesen.
In den schwersten Kampftagen verlor er nicht ein einziges Mal die Übersicht in der Führung der Kompanie, um durch einen unüberlegten Befehl unnötige Verluste zu verursachen. Bei allen Angriffen der Kompanie war er stets in der vordersten Linie zu finden, um von dort in der jeweiligen Lage seine Aufträge und Befehle zu geben.
Da ich lange Zeit als seine persönliche Ordonnanz dem Kompanietrupp angehörte, befand ich mich meistens in unmittelbarer Nähe unseres Chefs. Manchmal bei starkem gegnerischem Feuer, wobei sein Ruf „Volle Deckung“ durch die Reihen der Kompanie ging, sagte ich zu ihm: „Das hätte aber schief gehen können“. Einmal antwortete er darauf: „Russland ist so groß, da muss ja nicht unbedingt uns eine Kugel treffen“. Als wir beide beim ersten Beschuss einer „Stalinorgel“ in unserem Abschnitt im gleichen Deckungsloch lagen sagte er nur die beruhigenden Worte: „Da haben wir aber Glück gehabt“. Und mit einem gegenseitigen Blick waren auch diese nervenaufreibenden Sekunden an uns vorüber gegangen.
In den Zeiten des Stellungskampfes im Osten, wenn den Posten oft in den Kampfständen die Augen vor Ermüdung fast zufielen, schickte er ihn beim Kontrollgang in seinen Bunker zurück und stellte sich selbst für die restliche Zeit als Wache ans MG.
Gerade solche Taten des menschlichen Empfindens gegenüber seinen Männern ernteten besonders große Hochachtung innerhalb der Kompanie.
In guter Erinnerung bleibt mir noch die Sache mit der Schokoladentafel. Die am Morgen gemeldete Grabenstärke verringerte sich im Laufe des Tages durch einen Gefallenen. Unserem damaligen Spieß – es war nicht Stabsfeldwebel Faiß, ihm wäre dieser Fehler nicht unterlaufen – wurde dieser Gefallene wie üblich zum Abtransport gemeldet. Bei der am Abend erfolgenden Verpflegungsausgabe fehlte dann eine Tafel Schokolade die dem toten Kameraden zugestanden hätte. Durch einen sofortigen Rückruf beim Tross wurde der Spieß mit der fehlenden Tafel Schokolade mitten in der stockfinsteren Nacht nach vorne gerufen. Eine Aussprache zwischen Chef und Spieß unter vier Augen bereinigte diese Angelegenheit. Jedenfalls erklärte der Chef: „Wenn jemand diese Tafel Schokolade verteilt, dann sind meine Männer hier vorne zuerst an der Reihe.“
Was er tat und leistete wurde von der 3. Kompanie / Infanterieregiment 470 immer anerkannt und gewürdigt. Sein Name hatte einen guten Klang, nicht nur bei der Kompanie, sondern auch beim Bataillon und Regiment. Er war auch stolz auf das bedingungslose Vertrauen, das ihm die Angehörigen seiner 3. Kompanie entgegen brachten. In der Zusammenarbeit zwischen Chef und Kompanie entfaltete sich eine innere Gemeinschaft. Als späterer Hauptmann kam Dr. Raff im April 1943 vorübergehend zur Divisionskampfschule und hatte dann ein neu aus Norwegen zugeführtes Bataillon übernommen. Bei einem Angriff mit diesem erhielt er einen schweren Bauchschuss, geriet dabei in russische Gefangenschaft und ist dort als Vermisster vermutlich verstorben.
Kurt Breuning