Heiß brannte bereits die Sonne, als ich mich am Nachmittag des 26. März 1940 wie gewöhnlich auf Streife befand.Nichts regte sich. Nur das Rauschen des Rheins unterbrach die Stille. Die Front lag in tiefem Frieden.
Zu meiner Überraschung traf ich beim Panzerwerk Detmold Oberleutnant Vincon. In ihm erkannte ich einen alten Bekannten, meinen ehemaligen Stubenältesten aus der Rekrutenzeit wieder. Erfreut gratulierte ich ihm zum Eisernen Kreuz, zweiter Klasse, das ihm kurz zuvor als Führer mehrerer Spähtrupps über den Rhein verliehen worden war.
Noch mehr freute mich aber, als Oberleutnant Vincon mich einlud an einem Spähtrupp, der am gleichen Abend im Abschnitt der 4. Kompanie des Infanterieregiments 470 steigen sollte, teilzunehmen. Ohne Zögern sagte ich zu. Umso lieber als auf Anordnung des damaligen Bataillons-Führers Hauptmann Müller ein Teilnehmer von der 4. Kompanie bei diesem Unternehmen vorgesehen war. Oberleutnant Vincon bestellte mich also für 20:00 Uhr an den Brückenkopf bei Neuenburg. Über die dort gesprengte Brücke sollte der Spähtrupp vordringen.
Pünktlich um 20:00 Uhr war ich an der Brücke. Dort lagen bereits die durch Hauptmann Müller von der 4. Kompanie aufgebauten, schussbereiten Maschinengewehre links und rechts der Brücke. Mit ungeduldiger Spannung erwartete ich die Kameraden aus dem II. Bataillon. Anscheinen hatten sich ihre Vorbereitungen etwas verzögert denn sie trafen erst gegen 21:30 Uhr ein. Inzwischen war eine stockdunkle Nacht angebrochen. Leichter Regen nieselte herab, wir konnten einander kaum erkennen. Besser konnten wir es uns nicht wünschen. So waren wir guter Hoffnung, unseren Auftrag – die Stärke des französischen Werkes 400 Meter flussabwärts zu erkunden – erfolgreich abzuschließen. Gegen 21:45 Uhr setzte sich unser Trupp mit Leutnant Römer, einem Unteroffizier, 3 Gefreiten, 1 Schützen und mir, unter Führung von Oberleutnant Vincon in Marsch. Wir waren mit Pistolen und Handgranaten bewaffnet. Die besten Wünsche der Zurückbleibenden begleiteten uns. Ich selbst hatte noch eine Strickleiter umgehängt und für alle Fälle nur eine Badehose unter der Uniform angezogen.
Langsam und geräuschlos tasteten wir uns zunächst an den Schienen entlang. Schwieriger wurde es, als wir den gesprengten Teil der Brücke erreicht hatten. Hier kletterten wir auf der rechten Seite unter gegenseitiger Unterstützung mühsam an den Eisenstreben empor. Sehr langsam und mühevoll ging es nun voran. Wir konnten uns nur auf dem Bauch rutschend auf der schmalen Längsstrebe vorwärts ziehen. Tief unter uns stauten sich die Fluten des Rheins an den Überresten der Brücke. Ein unheimliches Gurgeln und Rauschen verschlang jeden Laut. Wir mussten uns daher gegenseitig an den Füßen halten um die Verbindung zu halten. Plötzlich ein Poltern, Klirren und ein dumpfes Aufklatschen im Wasser. Jede Bewegung erstarrt! Gespannt lauschen wir in die Finsternis, doch nur das monotone Rauschen des Rheins ist zu hören. Eine Handgranate war runter gefallen.
Am tiefsten Punkt der Brücke, einem Pfeiler, sammelten wir uns. Nun sollte eine Brückensicherung eingesetzt werden, aber keiner von uns wollte zurückbleiben. Jeder wollte dabei sein. Gemeinsam ging’s daher zum französischen Teil der Brücke hinauf. Wir nutzten die Streben als Deckung aus. Oberleutnant Vincon und ich gingen nun voraus um festzustellen ob der Brückenkopf vom Gegner besetzt war oder Hindernisse und Sperren vorhanden waren. Zwar stießen wir auf Gerümpel und Stacheldraht, konnten jedoch beim weiteren vordringen nichts Verdächtiges feststellen. Auf ein Zeichen folgten uns die anderen. „Wer übernimmt nun die Brückensicherung?“ Niemand meldete sich, also bestimmte Oberleutnant Vincon 3 Mann die sofort ihren Posten zwischen den Schienen einnahmen. Sie erhielten den Auftrag, falls wir nicht bis zum Morgengrauen zurück sein sollten, am nächsten Abend zurückzukehren. Wir mussten nun ein Stück zurück um von dem tiefer hängenden Teil der Brücke, mit Hilfe der Strickleiter, das französische Ufer zu erreichen. So betrat ich um 00:10 Uhr als Erster französischen Boden. Nichts regte sich. In dem Dunkel um uns, dass wir mit unseren Blicken zu durchdringen versuchten, blieb alles ruhig und still.
Unser Übergang über die Brücke schien also vom Gegner nicht bemerkt worden zu sein. Wir sammelten uns daher an der Wasserlinie, um uns zunächst von den hinter uns liegenden Anstrengungen zu erholen. Geräuschlos krochen wir dann mit frischer Kraft etwas 150 – 200 Meter am Rheindamm entlang.
In der Nähe der Pontonbrücke gab Oberleutnant Vincon das verabredete Blinkzeichen zum deutschen Ufer hinüber. Nach weiteren 100 Metern erreichten wir ohne Zwischenfall die von früheren Spähtruppunternehmungen bekannte Durchbruchstelle durch den Stacheldraht. Oberleutnant Vincon und ich erkundeten vorsichtig den Durchgang, vom Gegner war nichts zu sehen. Einer nach dem anderen schlüpfte durch den Drahtverhau. Von hier aus war bereits ein Lichtschein zu sehen, der offenbar aus der Hütte kam die zum Werk gehörte. Dichtes Buschwerk bot uns nun genug Deckung um auf dem Weg, senkrecht vom Ufer weg, aufrecht gehend weiter zu erkunden. Nach 150 Metern erreichten wir einen Fahrweg der parallel zum Ufer verlief. Vorsichtig schlichen wir uns im Schutze der Bäume in nördlicher Richtung am Ufer entlang bis etwa auf Höhe des zu erkundenden Werkes.
Es hatte aufgehört zu regnen. Von dem Lichtschein war nun nichts mehr zu sehen. Ringsum war alles ruhig, wir nahmen deshalb an das die Besatzung des Werkes sich zur Ruhe begeben hatte. Es galt nun den besten Weg auszukundschaften. Diese Aufgabe übernahmen Oberleutnant Vincon, Leutnant Römer und ich. Ich stellte schnell fest, dass es in der mir befohlenen Richtung nicht weiterging. Ich arbeitete mich daher auf dem kürzesten Weg zum vereinbarten Treffpunkt zurück. Den besten Weg schien offenbar Oberleutnant Vincon gefunden zu haben. Nun trat aber etwas ein was unseren Plan zu vereiteln schien. Das Wetter hatte sich allmählich aufgeklart. Der Mond trat aus den Wolken hervor und tauchte die ganze Umgebung in helles Licht. Das Werk war nun deutlich zu erkennen. Trotzdem entschlossen wir uns, unsern Auftrag durchzuführen. Auf dem von Vincon erkundeten Weg krochen wir vorsichtig, jede Deckung nutzend, von der Rückseite auf das Werk zu. Rechts von mir, durch eine Bodenwelle getrennt, arbeiteten sich Oberleutnant Vincon und Leutnant Römer vor. Trotz schärfster Beobachtung konnte ich nichts Verdächtiges bemerken. Als ich nach etwa 20 Metern wieder mit den beiden zusammentraf glaubte ich plötzlich hinter einem Baum etwa 4 Meter vor mir eine Bewegung zu erkennen. Bei genauerem Hinsehen erkannte ich einen französischen Posten. Leise teilte ich dies auch Oberleutnant Vincon mit. Auch er und Leutnant Römer hatten den Posten bereits erkannt uns schon einen Plan gefasst.
Inzwischen hatte ich meine Pistole gezogen. Kurz darauf erhob sich Leutnant Römer, ging auf den Posten zu und sprach ihn auf Französisch an. Dummerweise stürzte er dann über einen Stolperdraht, den wir zuvor nicht bemerkt hatten. Der Posten zog sich sofort in Richtung der Hütte zurück und rief auf Deutsch „Halt, wer da!“ Als Leutnant Römer sich erhob, schoss ihm der Posten vor die Füße und alarmierte die Besatzung. Wir anderen waren natürlich sofort aufgesprungen. Oberleutnant Vincon zog einen Handgranate ab und warf sie gegen die Hütte, wo sie ohne zu explodieren liegen blieb. Inzwischen war das ganze Werk in Aufruhr geraten. Aus Hütte und Werk stürzte die gesamte Besatzung, etwa 11 oder 12 Mann heraus. Eine Leuchtkugel wurde abgefeuert und eine wilde, planlose Schießerei begann. Auf die Stelle wo wir eben noch lagen, prasselten Schüsse nieder. Wir erreichten mit schnellen Sprüngen das Gebüsch rechts der Brücke. Als wir uns umsahen, konnten wir Leutnant Römer nicht mehr entdecken. So schnell wie möglich rannten wir zum Ufer und hatten bald das Drahthindernis erreicht. Wir liefen daran entlang. Hinter uns wurde geschrien und geschossen. Wir stolperten über Verspannungen, rafften uns wieder auf und keuchten weiter. Erneut eine Leuchtkugel: sofort lagen wir regungslos auf den Boden gedrückt. Dann wieder hoch und weiter. So erreichten wir glücklich die Stelle an der wir den Verbau überqueren konnten. Mit einem Sprung waren wir unten am Damm und hasteten am Wasser entlang.
An unserer Durchbruchsstelle angekommen hielten wir an um auf die beiden Kameraden zu warten die wir aus den Augen verloren hatten. Oberleutnant Vincon und ich legten uns oben auf den Damm. Von dort aus konnten wir beobachten wie mit Hilfe von Scheinwerfern die Nähe des Werkes abgesucht wurde. Immer wieder warfen Leuchtkugeln ihr grelles Licht auf die Umgebung, dann knallten vereinzelte Schüsse. Plötzlich ein Knacken und Brechen vor uns im Gebüsch. Deutlich war zu hören wie sich jemand durch den Draht arbeitete. Wir machten uns auf alles gefasst als auch schon zwei Gestalten mit einem Sprung über uns hinweg jagten. Erleichtert erkannten wir unsere beiden Kameraden. Gemeinsam hetzten wir nun zur Brücke zurück. Da hämmerte auch schon ein MG los. Pfeifend strich die Garbe unter der Brücke hindurch. Erschöpft mussten wir uns gegenseitig auf die Brücke hochziehen wo wir bereits von unseren Kameraden empfangen wurden. So rasch es ging eilten wir über die Brücke zurück, wobei uns der Mond zur Hilfe kam.
Unter Aufbietung der letzten Kräfte erreichten wir ungefähr um 02:10 Uhr wieder das deutsche Ufer. So war es uns doch noch gelungen, unseren Auftrag ohne Verluste erfolgreich durchzuführen.
Wilhelm Freund