Die Odyssee der elfjährigen Kriegsgefangenschaft von Robert Sand aus Kirrlach in Baden.
Vorwort:
Bei einer Fahrt zu den Schlachtfeldern des Zweiten Weltkrieges in die Normandie habe ich Robert Sand aus Kirrlach in den 80er Jahren kennengelernt. Er erzählte mir beiläufig, dass er erst im Dezember 1955 aus sowjetrussischer Kriegsgefangenschaft heimgekehrt ist, und das ihm diese Heimkehr wie ein Wunder vorkomme. Und wie das bei ehemaligen Kriegsgefangenen so ist, kam auch die Frage nach den durchlaufenden Lagern, und da kam ich wirklich ins Staunen, denn Robert Sand hatten die Sowjets 1948 erst zum Tode, dann zu 25 Jahren Arbeitsbesserungslager verurteilt und bis nach Magadan in Ostsibirien verbannt, sozusagen in den letzten Winkel dieses riesigen Reiches. Als Journalist hatte es mich natürlich sofort gereizt, die Lebensgeschichte dieses Kameraden aufzuzeichnen, aber es hat dann doch noch bis in unsere Tage gedauert, bis es dazu gekommen ist. Robert Sand und ich sind schon lange gute Freunde und für mich ist er „der Held von Magadan“
Im Folgenden will ich nun die außergewöhnliche Odyssee dieses bemerkenswerten Kameraden Robert Sand aufzeigen, denn er hat es verdient, das sein tragisches Schicksal nicht der Vergessenheit anheim fällt, sondern auch für die nachfolgenden Generationen bewahrt wird. Es ist verständlich, das sich nach mehr als 50 Jahren nicht mehr alles im Gedächtnis eingeprägt hat und auch nicht jedes kleine Zwischen- und Durchgangslager noch besser benannt werden kann, deshalb beschränken wir uns in diesem Bericht auf die wesentlichen Lager dieses grausamen Gulag – System des Sowjetkommunismus – Stalinismus, die Robert Sand, damals natürlich noch unbewusst, zu einem guten Teil gemeinsam mit dem späteren Literatur – Nobelpreisträger und weltberühmten Autor des drei-bändigen Werkes „Der Archipel Gulag“, Alexander Solschenizyn erlebt, erlitten und glücklicherweise überlebt hat.
Ich freute mich dass ich Robert Sand, der ein guter Kamerad und Mann von echten Schrot und Korn geblieben ist, zu seinem 83. Geburtstag den Bericht über seine Odyssee hinter Stacheldraht überreichen durfte. Den vielen toten Kameraden zum Gedenken und den Lebenden zur Mahnung und gleichzeitig ein authentisches und erschütterndes Zeugnis über das Schicksal der deutschen Kriegsgefangenen in der ehemaligen Sowjetunion.
Hermann Melcher
Erinnern wir uns:
Im Sommer 1944 vollzog sich im russischen Hinterland des Mittelabschnittes der Ostfront der gigantische Aufmarsch von mehr als zwanzig Armeen mit 207 Divisionen. Dann ging es los und die oft zitierte russische Dampfwalze kam ins Rollen. Zuerst ein gigantisches Trommelfeuer mit zehntausend Geschützen, darauf folgte ein Luftbombardement von zwei Luftarmeen mit mehr als tausend Bombern. Man kann sich kaum vorstellen, was hier auf die deutschen Soldaten nieder geprasselt ist. Kaum war die Front aufgerissen, stürmten die Panzer und die Sturmbrigaden in die Lücke, überrollten die letzten Widerstandsnester und jagen in Richtung Westen. Am 3. Juli 1944 fällt bereits Minsk, die Hauptstadt Weißrusslands und Sitz des Oberkommandos der Heeresgruppe Mitte. Glühend heiß und voller Mücken waren in jenen Tagen die Niederungen zwischen Beresina und Wolga. Robert Sand und seine Kameraden waren mitten drin in diesem Höllenfeuer von Bomben und Granaten und den anstürmenden Menschenmassen der Sowjets und die gesamte deutsche Heeresgruppe Mitte sah ihre nahezu völligen Vernichtung entgegen. Von 38 eingesetzten Divisionen wurden 28 zerschlagen.
350 000 – 400 000 Mann waren gefallen, verwundet oder wurden vermisst. Von 47 Generälen blieben 31 tot auf dem Schlachtfeld oder gerieten in Gefangenschaft.
Am 5.Juli 1944 irrten Robert Sand und einige seiner Kameraden in diesem Inferno umher. An einem Bach traf Robert Sand als Obergefreiter der 260. Infanteriedivision und Angehöriger des Reiterzuges der Stabskompanie des Infanterieregimentes 460 seinen Kommandeur Generalmajor Klammt, der die Parole ausgab: „Rette sich wer kann“. Er steckte mit seinem Kübelwagen im Schlamm eines Baches und geriet wenig später auch in Gefangenschaft (in diesem sowjetischen Propagandafilm ist General Klammt ab Minute 2:23 zu sehen).
Nicht so Robert Sand. Der traf am 6. Juli 1944 den Kameraden Karl Gaub, der mit ihm im Reiterzug war und mit dem er bis zum 7. Juli zusammen blieb. In einem Granattrichter übernachteten sie und teilten sich die letzte Verpflegung, die jeder noch bei sich hatte und beide schliefen total erschöpft ein. Als sie am Morgen aufwachten stand ein SIS LKW der Russen wenige Meter vor ihrem Loch und aus einem Lautsprecher tönten die besten deutschen Parolen, mit denen sie die deutschen Soldaten zur Übergabe und zum Überlaufen aufforderten. Nach einer kurzen Diskussion mit Karl Gaub, ob sie sich erschießen oder sich in sowjetrussische Kriegsgefangenschaft begeben sollten, begaben sie sich schweren Herzens zu dem SIS – Wagen, dessen Insassen auf sie zu kamen.
Es waren Angehörige des Nationalkomitees „Freies Deutschland!“ die auf sowjetischer Seite aktiv geworden sind. Vielleicht war diese Tatsache ein Glück für Robert Sand und seinem Kameraden Karl Gaub, denn diese brachten die beiden zur etwa 100m entfernten Rollbahn, wo schon Kolonnen deutscher Kriegsgefangener entlang schlürften, so das die Gefangennahme durch die Sowjets weniger spektakulär oder schrecklicher war, als bei vielen anderen Landsern. Doch über dem Ganzen lag eine tiefe Schwermut, eine Atmosphäre aus Blei. Die Gehirne waren blockiert: „Jetzt sind wir in Gefangenschaft, in russischer Gefangenschaft“ hämmerte es hinter ihren Schläfen, und was kommt jetzt? „ Jetzt bist du gefangen!“
Niemand, der es nicht selbst erfahren hat, kann ermessen, was das heißt. Mühsam und todmüde schleppten sie sich vorwärts und wurden dann mit anderen Kameraden, die das Inferno bis jetzt überlebt hatten, in Richtung Minsk getrieben. Reihe um Reihe, Gruppe um Gruppe, Kolonne um Kolonne! Erste Station war ein ehemaliges Kriegsgefangenenlager für sowjetische Gefangene. Verpflegung gab es keine. Wie Peitschenhiebe traf sie die bittere Erkenntnis, dass man jetzt Kriegsgefangener der Russen ist, etwas das bisher niemandem in den Sinn kam. „Die letzte Kugel für mich, bevor ich in Gefangenschaft gehe“ das war für viele der letzte Gedanke. Nun taumelst Du mit in der Kolonne der Kriegsgefangenen und willst das nicht fassen. Alles in Dir ist zusammengebrochen! Was soll nun werden? Du bist gefangen, Du bist nichts mehr, Du hast gar nichts mehr! Nur noch dein nacktes Leben. Und dann merkst Du, dass Du auch das nur noch leihweise hast. Wie lange noch? Du bist auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, Du bist in der Gewalt von Menschen, die mit Dir machen können, was sie wollen – und die dich hassen. Du möchtest schreien, weil Du dieses schreckliche Gefühl in der Brust los haben willst, dieses Gefühl, diesen Schmerz. Angst, grenzenlose Verlassenheit, Sehnsucht und Heimweh! Nimm diese Bilder als Erinnerung an Deine schwersten Jahre und sag allen, die den Stacheldraht nicht kennen: „Er ist der Ärmste, der unter der Sonne herumläuft, der Kriegsgefangene überall in der Welt“.
Glühend heiß brannte die Julisonne herab, als Robert Sand und seine mit gefangenen Kameraden in Kolonnen zu je 100 Mann nach Borissow getrieben wurden, – ein grausamer Marsch, unermüdlich getrieben durch das gutturale Geschrei und unmenschliches Schlagen begleitender Bewachungstruppen.
Sowjetische Panzerkolonnen fuhren an ihnen vorbei und von den gepanzerten Fahrzeugen sprangen Rotarmisten herunter, die ununterbrochen in die Reihen der Gefangenen einbrachen und plünderten, was das Zeug hielt. Robert Sand wurde so seine Reitstiefel los und musste auf Socken weiter marschieren, bis diese nur noch Fetzen waren. Dann ging es auf heißen Asphaltstraßen und steinigen Seitenwegen barfuß weiter. Geplagt von wahnsinnigem Durst versuchten viele, während einer der seltenen Rasteinlagen, aus grünen Tümpeln Wasser durch Taschentücher zu seihen und dieses zu schlürfen.
Endlich in Borissow angekommen wurden die Kriegsgefangenen in überfüllten Unterkünften zusammengepfercht und drei Tage ohne jegliche Verpflegung dort festgesetzt. Die Auszehrung durch den Hunger nahm ihren schlimmen Anfang. Wer an den folgenden Tagen dieses endlosen Treibens nach Osten nicht weiter konnte, wurde gnadenlos erschossen, und unzählige, die bis jetzt durchgehalten hatten, packte die Hoffnungslosigkeit und die entsetzliche Angst, die Heimat nicht mehr wieder zu sehen. Nicht wenige sanken auf diesen entsetzlichen Märschen in die Erde und ruhen unter den Winden der endlosen weiten Steppengebiete und kein Mensch wird je erfahren von ihrem Heimweh, ihrem Schmerz, ihrem letzten Schrei und Seufzer. So sind selbst die Elendesten unter den noch Überlebenden wohl rechte Sieger über Mühsal, entsetzliches Grauen und über den Tod, – vorausgesetzt natürlich, das sie dies alles durchstehen können.
An der Beresina, einem rechten Nebenfluss des oberen Dnjepr, stoppte die Kolonnen und wurden zum Waschen an den Fluss geführt. Obwohl Tierkadaver und auch Leichen darin trieben, tranken viele aus Verzweiflung und wahnsinnigen Durst dieses verseuchte Wasser. So manchem noch geschichtsbewussten deutschen Gefangenen mögen wohl trotzt großem eigenem Elend die Gedanken gekommen sein, das beim Übergang über diesen Schicksalsfluss die Große Armee Kaiser Napoléons I. zwischen den 26. und 29. November 1812 große Verluste erlitten hatte.
Dann wurden Robert Sand und seine Kameraden verladen. Seitwärts stehenden Russen schien es dabei Spaß zu bereiten, wenn sie wie die Metzger auf den Schlachthöfen beim Viehtrieb, aus Leibeskräften brüllen konnten. Ab und zu stießen sich auch mit Gewehrkolben in die vorbei rennenden Gefangenen und schlugen einfach wahllos dazwischen. – 90 Mann werden in einen Pullmannwaggon gepresst und das für eine monatelange Fahrt. Da sanken viele auf die russische Erde, blieben irgendwo am Rande des Schienenstranges liegen, ungetröstet und unbeweint. Durch die gänzliche Gehaltlosigkeit der Verpflegung wurden viele der Gefangenen von Durchfall befallen. Auch Robert Sand, der dann in den speziellen Durchfallwaggon verlegt wurde. Hier wurde täglich gestorben und Tote, die völlig ausgezehrt waren, blieben auf der Strecke in den russischen Weiten zurück. Robert Sand wollte hier so schnell wie möglich raus aus dieser bedrückenden Atmosphäre, was ihm auch zum Glück gelungen ist, denn er hatte noch eine Schachtel Streichhölzer bei sich.
Hölzchen für Hölzchen lies er verglühen und kaute dann die übrig gebliebene Holzkohle der verbrannten Streichhölzer. Das hat ihm fürs Erste geholfen, den Durchfall zu stoppen. Not macht erfinderisch! Wer hat schon mal Streichhölzer als Medizin gegen Durchfall gekannt?
In Moskau stoppt der Transport und die Gefangenen wurden zum Duschen geführt. Die meisten Gefangenentransporte hielten hier, denn am 19. Juli 1944 wurden mehrere zehntausend Gefangene in einem riesigen Propagandamarsch durch Moskau getrieben, bevor sie wieder weiter ins Landesinnere verlegt wurden. Der Transport, dem Robert Sand angehörte, fuhr aber weiter, so dass dessen Insassen nicht an diesem Propagandamarsch durch Moskau teilnehmen mussten. In den letzten Tagen dieser Fahrt schienen die Zustände aber einer Tragödie zu zu treiben.
Der wochenlange Stumpfsinn in der Zuchthauszelle Pullmannwaggon und die Aussichtslosigkeit lastete auf allen. Es blieben jetzt täglich nur 180 g Trockenbrot und ab und zu etwas amerikanisches Salzfleisch. Im Dösen und Sinnieren vertropfte die Zeit. Immer liegend oder sitzend, den gleichen Blick auf die Nachbarpritsche, der stete Betrieb über dem Abortloch, dieselben Geräusche der Schienenstöße, das stöhnen und Schnarchen. Das Schlagen der Räder auf den Schienen hatte sich schon in den Ohren festgesetzt. Bei der Kreuz und Querfahrt und vielen Aufenthalten konnte die tägliche Fahrleistung nicht mehr beurteilt werden.
Nach endlos scheinender Fahrt von 4 Wochen kam der Transport, dem Robert Sand zugehörig war, endlich an seinem Bestimmungsort an. Es war Karaganda in Kasachstan. Wie überzählige Lasten fielen die Gefangenen aus den Waggons. Beim großen Mehlkombinat hatte der Transport gehalten und an der Wassertankstelle für die Lokomotiven kam es unter den so mühselig und geschwächten ausgestiegenen Gefangenen zu Tumulten, denn die bald Verdursteten stürmten diese Wasserquelle, so das die Posten sich kaum mehr zu helfen wussten und von der Schusswaffe Gebrauch machten.
Robert Sand kann sich nicht mehr genau erinnern, ob es dabei Tote gegeben und Verwundete gegeben hat. Aber man sollte es kaum für möglich halten nach der Ausladung wurden die Gefangenen, die sich kaum mehr aufrecht zu halten wussten, auf einen langen Fußmarsch durch die asiatische Hungersteppe geschickt, und wer nicht mehr mitlaufen konnte, das waren sehr viele, die wurden nun nicht mehr erschossen, wie zu Anfang der Gefangenschaft, sondern von hinterher fahrenden Lkws aufgelesen und gefahren. Es war eine schier endlos erscheinende Strapaze, bis schließlich das Lager Spasski – Zarod Ende August 1944 erreicht wurde. Robert Sand erinnert sich, wie sie zunächst nicht ins Lager hinein durften, sondern erst rasiert werden mussten, das heißt: alle Körperhaare wurden mit stumpfen Messern abgeschabt. Dies war nicht nur eine schmerzhafte, sondern auch eine demütige Prozedur.
Es dauerte noch einen halben Tag und eine Nacht, ehe Robert Sand dieses Lager betreten konnte. Als „Kopfkissen“ diente ihm in der Nacht ein Backstein, was auch irgendwie symbolisch war, denn „viele Steine gab es und wenig Brot“. Es stellte sich heraus, dass dieses Lager in dieser Zeit nur als Durchgangslager diente, denn wenige Tage später wurden alle verlegt ins Lager 3 Kostenko im Raum Karaganda. Kaum dort angekommen ging es zur Sklavenarbeit in den Kohleschacht. Da Robert Sand sich als ehemaliger Reiter gut mit Pferden auskannte, wurde er als Pferdefahrer in 250 m Schachttiefe eingesetzt. Das war im Vergleich zum Arbeitseinsatz jener Kameraden, die so zu sagen vor Ort in der Kohle arbeiteten oder die laufenden Förderbänder mit Kohle voll schaufeln mussten, eine relativ erträgliche Arbeit. Zwischenzeitlich hatten sie auch erfahren, dass der Krieg zu Ende war, und es keimte ein bisschen Hoffnung auf, das dies alles doch nicht so lange dauern möge.
Aber viele Kameraden, hauptsächlich die aus dem Osten Deutschlands, machten sich die größten Sorgen um ihre Familien und um ihre Angehörigen. Alles das war sehr bedrückend. Robert Sand arbeitete bis Juli 1945 in der Kohlegrube, dann durfte er auf einmal das Lager nicht mehr verlassen und es begannen für ihn völlig unverständlichen Verhöre, die wohl darauf hinausliefen, ihm die Beteiligung an angeblichen Gräueltaten anzulasten, mit denen man seine 260. Infanteriedivision belastete, die ja auf der sowjetischen Liste der sogenannten „gesperrten Einheiten“ stand. Wer nun einer dieser Einheiten zwischen 1941 und 1945 angehört hatte fand sich plötzlich auf einer besonderen Kriegsverbrecherliste wieder.
Als die Kunde dieser Liste in die Gefangenenlager vordrang, entstand dort bald der Spitznahme „gesperrte Einheiten“. Der Grund hierfür war einfach, aber für die Betroffenen wie Robert Sand grausam. Die solcherart ausgesonderten Soldaten wurden von der Möglichkeit, bald wieder nach Hause zu kommen, völlig ausgesperrt. Bald fanden sich zigtausend deutsche Kriegsgefangene nahezu aller Dienstgrade für eine baldige Heimkehr gesperrt und als politische Verbrecher ausgesondert wieder. Sie wurden aus ihren Lagern verschleppt und in besondere „politische Lager“ oder „politische Abteilungen“ anderer Gefangenenlager verfrachtet, wo sie dann wieder einmal besonderen sowjetischen Verhörtechniken ausgesetzt wurden.
Die sowjetischen Justizmühlen begannen zu arbeiten. Man ermittelte gegen diese „Kriegsverbrecher“, deren einziges Verbrechen es gewesen war, zum falschen Zeitpunkt der falschen Einheit angehört zu haben. Besonders an dem Jahre 1949 wurden mehr als 50 000 deutsche Kriegsgefangene in lächerlichsten Schauprozessen angeklagt und meist auch verurteilt.
Verfahren und Prozess sind überhaupt keine zutreffenden Begriffe für das, was man unter sowjetischer Seite darunter verstand. Bereits die so genannten „Ermittlungen“ waren schlechthin ein Hohn! – Zwar wurden die Beschuldigten durch NKWD und GPU – Angehörige ständig verhört, doch war es bei den angewandten Verhörmethoden und dem, was dann als Aussage aufgezeichnet wurde völlig egal, was ein Gefangener zu Protokoll gab. Die Tatsache, dass er einer „gesperrten Einheit“ angehörte und sich auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion aufgehalten hatte, genügte völlig, ihm den Prozess zu machen. Für die sowjetische Justiz stand dann fest, dass der Betroffene an kriegerischen Geschehnissen zustimmend teilgenommen hatte.
Robert Sand konnte damals diese „Feinheiten“ der sowjetischen Justiz noch nicht so genau kennen und grübelte, wer ihn wohl bei den Sowjets angeschwärzt haben könnte? Denn es gab leider in der Kriegsgefangenschaft Kerle, die um geringe Vorteile willen sich zu „Fronknechten“ der eigenen Brüder bestellen ließen und so zu Verrätern wurden, schmutzigen Verrätern – für ein Stück Brot, eine zusätzliche Suppe, einen guten Arbeitsplatz oder aber aus purer, nackter Feigheit!
Wahrlich das war das Schlimmste, denn diese Verratshandlungen schossen wie Pilze aus dem Boden und vernichteten immer wieder die zarten Ansätze von Vertrauen von Menschen zu Menschen. Und doch, darauf legt Robert Sand wert, gab es auch Wunder. Denn in diesem Sumpf gab es auch noch Männer, die ehrlich, tapfer und treu waren – und das waren wirklich nicht wenige. Je größer die Anzahl der Jahre des Wartens wurden, umso größer wurde ihre Zahl. Denn immer klarer wurde es den Strauchelnden, den Haltlosen, den Mutlosen, das überhaupt die Möglichkeit für ein Herauskommen aus der Hölle, soweit es ums Durchhalten geht, nur über einen geraden Weg und ein Vertrauen auf die eigene Kraft führen kann.
Rückblickend kann man sagen, dass es feste Freundschaften in der Gefangenschaft nur wenige gab. Schwerste Enttäuschungen in der bittersten Zeit dieser Jahre hielten die meisten von jedweder Bindung ab. Wohl aber wurde mit der Zeit das gegenseitige Verstehen besser, auch die kameradschaftliche Hilfe. Viele halfen einem, dessen Herz todwund geschlagen wurde durch irgendeinen bösen Schicksalsschlag – und einer half auch vielen, weil ihm ein Höherer mehr Kraft verliehen und dazu die Gabe zu trösten und aufrichten zu können. Das, so Robert Sand, waren Lichtblicke in dieser Finsternis. Aber es blieben Sandkörner in dieser Wüste des Grauens. Immer wieder gab es Stunden, wo diese schwer geprüften Menschen glaubten, nun keinen weiteren Schlag mehr ertragen zu können. Doch der nächste Schlag kam, auch für Robert Sand.
Da er nichts aussagen und bestätigen konnte, was seine Vernehmer von ihm hören wollten, steckten sie ihn in den Karzer, ein Loch, in dem man bei uns keinen Hund halten würde. Da stellt sich die Frage, wie viel kann ein Mensch körperlich und seelisch ertragen, wo ist da eine Grenze erkennbar? Die Kriegsgefangenen, die es bis hierher in die asiatische Wüste geschafft hatten, was waren das für Menschen? Nun sie waren durch Feuernächte, tiefstes Leid und grässliche Qualen gestürmt und gezerrt, verbraucht und gealtert, müde und stumpf und doch noch empfindsam, sobald das Herz angesprochen wird.
Nachdem Robert Sand durch die vielen Karzeraufenthalte bei Wasser und Brot – wenn überhaupt – nur noch eine Kochstelle war, hat man ihn ins Lager Spasskij verlegt, das sich zwischenzeitlich zum Erholungslager gemausert hatte. Robert Sand erinnert sich: als der Blick der Majorärztin über seine ausgemergelte Gestalt ging murmelte sie etwas von Dystrophie und sagte, das er jetzt besser Essen solle und „nix Arbeit“ machen.
So ganz ohne Arbeit ging es im Erholungslager Spasskij aber auch nicht, doch Robert Sand erwischte eine halbwegs lukrative Arbeit, die allerdings mit viel Gestank verbunden war. Er wurde Asanisator, das mag auf russischen zwar bedeutend klingen, heißt aber auf Deutsch schlicht und einfach „Scheißefahrer“. Ihm standen zu diesem Geschäft ein Wagen mit 2 Pferden, extra Klamotten und ein Kübel zum Transport der stinkenden Fracht zur Verfügung. Als Asanisator bekam er auch extra Verpflegung, das heißt, die tägliche Ration war etwas mehr und besser als die übliche Lagerverpflegung, und so nach und nach futterte sich Robert Sand wieder ein bisschen „Speck auf die Rippen“.
Kaum war er wieder einigermaßen bei Kräften, wurde er wieder als „arbeitsfähig“ ins Lager 2 abgeschoben, wo in größeren und kleineren Tagebauschächten Kohle abgebaut wurde. Die Hauptaufgabe der dort eingesetzten Kriegsgefangenen bestand darin, die Gleise immer wieder an die Kohle ran zu legen, so das keine Transportlücke entstehen konnte. Doch auch in diesem Lager bekam Robert Sand sogleich wieder zu spüren, das der NKWD ihn im Visier hatte, denn urplötzlich begannen auch wieder die Verhöre, und nur wer selbst einmal vor solchen NKWD – Vernehmungstypen als „armes Würstchen“ gesessen oder gestanden hat, kann ermessen, welch große Belastung diese Tortouren für den Betroffenen bedeutet haben.
Robert Sand kam gleich anschließend an die Vernehmung wieder in den Karzer bei Wasser und Brot und der körperliche Abbau machte wieder rapide Fortschritte. Als er bei der monatlichen Lagermusterung von der Majorärztin vermisst wurde, holte man ihn wieder aus dem Karzer und stufte ihn als Dystrophiker 4 ein. Altgefangene wissen, dass dieses ein Zustand kurz vor dem Tode ist.
Robert Sand wurde unzählige Male verhört und in den Karzer gesperrt, wenn seine Antworten den Vernehmern nicht ins Konzept passten. Die psychischen und physischen Belastungen waren enorm. Es gab stundenlange Verhöre, ständige Drohungen, Versprechungen, Fangfragen, einander ablösende Vernehmungsoffiziere, grausamste körperlich Misshandlungen, (Fausthiebe in Nacken und Gesicht, Schläge mit Pistolenknäufe u. a. m.) stundenlange „stramme Haltungen“. Bei Verweigerung des „Geständnisses“ folgten Stehzelle oder Dunkelkarzer, verschärft durch Hunger, scharf gesalzene Kost ohne Trinkwasser, Entzug von Mäntel und Oberbekleidung. Nach tage- oder wochenlanger Karzer bzw. Bunkerhaft gab es neue Vernehmungen und weitere Misshandlungen. Ziel all dessen war immer das Geständnis, da für angebliche Verbrechen keine wirklichen Zeugen vorhanden waren, abgesehen von den unter Druck gesetzten Mitgefangenen und Lagerspitzeln.
Die Majorärztin hatte dafür gesorgt, dass Robert Sand wiederum ins Erholungslager Spasskij verlegt wurde. Seine alte Vorzugsstellung als Asanisator konnte er zwar dort jetzt nicht mehr bekommen, aber er wusste schon, wenn er wieder ein bisschen bei Kräften ist, wird die Verlegung erfolgen, und die NKWD-Vernehmer werden sich sogleich wieder an seine Fersen heften und ihn quälen, wieder in den Karzer stecken, also ein Teufelskreis! Die seelische und körperliche Belastung durch die andauernden Verhöre und die beständige Ungewissheit, was sie alles dem Obergefreiten der ehemaligen Wehrmacht Robert Sand anheften wollen, ließ eigentlich gar keine körperliche Erholung mehr zu, denn dieses Dilemma beschäftige Robert Sand bei Tag und Nacht.
Er sollte mit seiner Meinung nicht mehr fehl gehen, denn nach wenigen Wochen in Spasskij erfolgte die Verlegung ins Lager 5 Elektrowerk, also wieder in ein anders Lager als nach dem ersten Aufenthalt in Spasskij. Auch dieser ständige Lagerwechsel sollte wohl zur Zermürbung des Kriegsgefangenen Robert Sand beitragen. Dort war auch wieder der Robert Sand schon gut bekannte jüdische Kommissar Krems vor Ort, der bei allen bisherigen Vernehmungen dabei war. Das ließ nichts Gutes ahnen. Er ließ Robert Sand wieder abholen und gab ihm im Befehlston zu verstehen, das er seine Kameraden aushorchen und das Ergebnis ihm mitteilen soll.
Die Obergefreiten, so sagt man, waren das Rückgrat der deutschen Armee und wer diesen vorbildlichen Robert Sand kennt, der weis, das dieser nie und nimmer zum Spitzel geboren ist. – So ist es kein Wunder, dass er den Befehl des Kommissars Krems missachtet und einfach nicht von sich hören ließ. Doch diese völlige Missachtung des Befehls von Krems sollte böse Folgen haben. Robert Sand wurde mal wieder abgeholt und ins Straflager 13 verbracht. Als er an einem der ersten Tage dort beim Kartoffeln sortieren war, wurde er wieder von einem Wachposten aufgerufen, musste diesem folgen und sah sich – oh Schreck – wieder dem Kommissar Krems gegenüber, der schon einen Stoß Blätter vor sich liegen hatte, wo alle Untaten des Obergefreiten Robert Sand protokolliert waren, nur wusste er nicht was in diesen Blättern alles stand.
Er hatte wirklich Null Ahnung davon, was auf 70 Seiten des von Krems verfassten Protokolls alles stand. Robert sollte dieses Protokoll unterschreiben, weigert sich jedoch beharrlich, dies zu tun. Kommissar Krems bediente sich aber eines einfachen Tricks. Er brachte Robert Sand ein von einem DIN A4 abgetrennten, etwa 3 cm breiten Abschnitt, auf dem er Unterschreiben solle, das ihm bei der Einlieferung in den Karzer nichts abgenommen worden war. Diese Unterschrift leistete Robert Sand, nichts ahnend, dass dies dem umfangreichen Protokoll von Kommissar Krems angelegt wurde, womit der Kriegsgefangene Sand etwas zugegeben und durch seine Unterschrift bestätigt hat, was er nie getan hat. So einfach war das damals bei der sowjetischen Justiz. Kommissar Krems versprach noch scheinheilig, dass nun alles überprüft werde, und wenn sich nichts Negatives ergebe, könne der Kriegsgefangene Sand bald nach Hause fahren. Der vegetierte aber noch vom 30.11.1948 bis 30. 12. 1948 im Karzer, ganz offensichtlich mit dem Zweck verbunden, ihn „weich zu kochen“. Am 29.12.1948 wurde Sand von einem NKWD Mann aus dem Karzer geführt und dem im gleichen Haus tagenden Militärgericht übergeben.
Robert Sand wusste zunächst nicht, was das zu bedeuten hatte, aber es wurde ihm dann schnell klar, dass hier seine „Gerichtsverhandlung“ statt fand. Der Ablauf einer solchen Gerichtsverhandlung war fast immer gleich. Das Gericht bestand meist aus einem höheren Offizier, häufig einem Major als Vorsitzendem und zwei Leutnants oder Unterleutnants als Beisitzern. Weiter waren noch ein Schreiber und ein Dolmetscher anwesend. Diese Funktionen wurden häufig von Frauen bekleidet. Nach Fragen zur Person hieß es dann meist. Bei welcher Einheit waren Sie? Wann waren Sie in der Sowjetunion? Die Antworten interessierten dabei niemanden in diesem Raum. Dann hieß es: „Das Gericht zieht sich zur Beratung zurück“. Das war es dann. Robert Sand wurde aus dem Raum geführt, wenige Minuten später wieder hinein und bekam sein Urteil verlesen:
„Als Angehöriger der 260. Infanteriedivision hat Robert Sand das sowjetische Territorium betreten und Beihilfe zu Gräueltaten gegen das friedliche sowjetische Volk geleistet“.
Dann wurden die angeblichen Gräueltaten, die Sand begangen haben soll, verlesen und anschließend das Urteil verkündetet: Der Angeklagte Robert Sand ist am 29.12.1948 vom Militärgericht der kasachischen sozialistischen Sowjetrepublik laut Strafgesetzbuch vom 19.4. 1943 zum Tode verurteilt worden! Weil diese abgeschafft ist, wird die Strafe auf 25 Jahre Arbeitsbesserungslager festgelegt.
Der Angeklagte hatte dann noch ein letztes Wort, aber Sand war so perplex, das er nur „Danke“ sagte. Fragte einer nach der Art der Verbrechen, derer er beschuldigt wurde, hieß es meist: die sind in der ganzen Welt bekannt und müssen hier nicht erläutert werden.
Nach Robert Sand kam der nächste „Kriegsverbrecher“ an die Reihe, und so wurden nahezu alle inhaftierten pauschal zu Tode bzw. zu 25 Jahren Arbeitsbesserungslager verurteilt. Jede Verhandlung dauerte etwa 15 Minuten! Begleitet von 2 mit Maschinenpistolen bewaffneten NKWD-Wächtern wurde Sand dann abgeführt zu einer Baracke hin, in der schon vor ihm die Verurteilten auf die jeweils Nächsten gewartet haben. Alle hatten das 08/15-Strafmaß der sowjetischen Justiz „25 Jahre“ verpasst bekommen. Galgenhumor machte sich breit, anderseits aber auch tiefste Resignation. „25 Jahre Arbeitsbesserungslager“ waren wohl die meist gebrauchten Worte dieser Jahre, und die Verurteilten erfuhren bald darauf, meist durch Kameraden die „Bezeichnung“ hatten, aber auch durch deutsch sprechende Bewacher, das es mit den 25 Jahren noch lange nicht abgetan sei. Wenn diese Strafe als verbüßt galt, wurde meist eine nächste Strafe von 10 Jahren „administrativ“ angehängt. Überlebte man auch das, folgte die nächste „administrative“ Strafe und so weiter. Den Gedanken daran, jemals wieder die Heimat zu sehen, konnten die meisten Verurteilten rasch wieder vergessen, denn ihre Chance darauf waren nach diesen Schandurteilen als äußerst gering einzuschätzen. Das war auch bald den letzten Optimisten klar.
Diese Verurteilungswellen mit ihren abgewandelten Todesstrafen sprachen jedem Völkerrecht Hohn. 25 Jahre Straflager war mehr als nur ein Schlag mit dem Hammer auf den Kopf. In ihrer Verzweiflung sind viele Männer über Gott zu Gericht gesessen, über Gott dem sie fluchten. Doch das Schlimme daran ist, das diese Schicksale gar nicht aus den unergründlichen Geheimnissen Gottes stammen, sondern das sie nichts anderes als die Fingerabdrücke des Teufels sind, die man gemeinhin Menschen nennt. Mit dieser Last im Ohr noch die Schreie der Mongolenwachen und das Heulen des Oststurmes über der Steppe, erfolgte der Abtransport in die Gefängnisse. Es beginnt eine Nervenkrise, wie sie größer noch nicht da war.
Den Winter 48/49 erlebte Sand im Gefängnis in Karaganda, wo sie mit 60 Mann total überfüllter Gefängniszelle des Nachts nur auf einer Seite liegen konnten, wenn überhaupt. Einer, der als Spitzel ausgemacht war, musste auf dem Toilettenkübel sitzen bleiben, so ein „Stück Scheiße“ hatte nichts Besseres verdient. Für Charakterlosigkeit und Verrat gab es keine Gnade. Aus diesem, als Sonderlager Nr.4 deklarierten Gefängnis an der Eisenbahnstation Noworudnaja, Gebiet Karaganda, wurden die Verurteilten in Gefängniswagen verfrachtet und wurden in das Lager Dscheskasgan verbracht, ein Straf – und Erziehungslager mit verschärften Bestimmungen und Beschränkungen. Die Bestimmungen für dieses Regimelager lesen sich wie folgt: „unbegrenzte Arbeitszeit, auch Nachts und an freien Tagen – Wichodnoj denj, wie zum Beispiel Stalins Geburtstag oder Tag der Verfassung werden nach gearbeitet. Jeder fünfte Sonntag im Monat entfällt. Ansonsten hat die Woche sechs volle Arbeitstage.
Keine Postverbindung nach Hause, keine Zeitung, keine Bücher oder Lesestoff anderer Art. Es ist ein Schweigelager. Unterricht in der russischen Sprache ist nicht erlaubt. Keine geldliche Entlöhnung für die geleistete Arbeit. Rubelbesitz ist fluchtverdächtig und daher verboten. Einbehalt von 200 g des täglich zustehenden Normbrotes, das bekanntlich 600 g sein sollte. Das zurückgehaltene Brot kann durch Normerfüllung bei der Arbeit wieder geholt werden. Bestarbeiter können noch weitere 100 g sowie 70 bis 100 g Brei – Kascha erarbeiten.“
Letztere Maßnahme war eine infame, teuflische Anordnung. Mit Brot hatte man zu allen Zeiten in gemeinster Weise Menschen beherrschen und verführen können, unter den gegebenen Umständen umso unbeschwerter und gewissenloser. Die sowjetische Lagerverwaltung schuf sich mit dem Einbehalt in raffinierter Weise ein Brot – Manövermasse, mit der sie das Lager steuerte, zur Fronarbeit antrieb, sowie Funktionäre jeder Art willfährig machte. Bei diesem schändlichen System mussten die Kranken und Schwachen immer mehr an Lebenskraft verlieren und ausbluten.
Alexander Solschenizyn, der russische, heute rehabilitierte Nobelpreisträger, der gemeinsam mit Robert Sand, damals natürlich unbewusst, mehrere Lager im Gebiet Karaganda durchlaufen hatte, berichtete in seinem aufsehen erregenden dreibändigem Werk „Der Archipel Gulag“ in vielen ausführlichen Passagen über die Hölle Dscheskasgan. Da er offenbar nie mit einem deutschen eingesessenen Strafgefangenen über dieses Regimelager gesprochen hat, haben wir doppelten Anlass, das Erlebnisträger und Opfer wie Robert Sand die Wahrheit anmahnen. Solschenizyn schrieb: „Schon alleine das Wort Dscheskasgan verursacht physischen Schauer, wie wenn man mit einer groben Raspel über die Haut fährt. Es ist grausam wie seine Geschichte.“ Solschenizyn bekundete auch aus eigenem Erleben die millionenfachen, unschuldigen Opfer des Stalinismus.
Das kleine Katorka – Lager Dscheskasgan im ehemaligen Verbannungsgebiet des zaristischen Russland wurde unter Stalins Schreckherrschaft zu einem der grausamsten Straflager mit strengstem Regime ausgebaut.
Nach amtlichen Unterlagen, die in der Zeitung „Moskowski Komsomolez“ veröffentlicht wurden, lebten allein im Jahre 1952 zwölf Millionen Menschen in Stalins Arbeitslagern. Die sowjetische Nachrichtenagentur Tass verbreitete am 5. Mai 1950 die Meldung, das in der Sowjetunion 9 117 verurteilte Kriegsverbrecher, 3815 Beschuldigte und 14 Kranke zurückgehalten würden, aber keine Kriegsgefangenen mehr. Der Moskauer Historiker Lew Besymenski hat dagegen später die Verurteilten mit 28000 beziffert. Robert Sand war einer davon.
Am 5. März 1953 um 9.30 Uhr starb Stalin, und ein großes Aufatmen ging durch den gesamten Archipel Gulag. Vergessen wir es nicht! Die Lage der deutschen Kriegsgefangenen in der Sowjetunion war eine der größten Menschheitstragödien des letzten Weltkrieges. Für die grobe und vorsätzliche Missachtung der Menschenrechte war Stalin hauptverantwortlich. Das Massensterben in den sowjetischen Kriegsgefangenen Lagern hielt über Jahre nach Kriegsende an und hielt grausame Ernte unter den deutschen Kriegsgefangenen. Die offiziellen Zahlen beweisen es bereits, die tatsächlichen Todesziffern sind noch weit höher.
Robert Sand hat es miterlebt, wie der Tod Stalins und die spätere Liquidierung seines Oberhenkers Berija im Sommer 1953 in tragischer Weise den Zerfall der Sonderlager beschleunigte. In den schrecklichen Jahren 1949 bis 1954 war Robert Sand in Höllenlager Dscheskasgan und arbeitete dort auf verschiedenen Baustellen und Anlagen. Zunächst war er mit seinen Kameraden am Bau einer Elektrostation eingesetzt, dann arbeitete er am Aufbau eines Kupferbergwerks. Die Gegend um das Lager war trostlos. In der Steppe gab es nur Hirtenpfade der nomadisierten Kasachen, die mit kleinen Herden umherzogen. Es gab keine Bäche oder Brunnen, nur regenabhängige Tümpel, Laufend Ab – und Zugänge sowie Verlegungen im Lager und Versetzungen in die Kommandos machten die Belegstärke, die aus vielen Nationalitäten bestand, kaum überschaubar.
Die Arbeit auf der Elektrostation bestand fast ausschließlich im Umschaufeln und Transportieren von Kohle und Schlacke. Im Kupferbergwerk wurde ohne Schutzmaske gebohrt, der Gesteinstaub führte in kurzer Zeit zur Silikose und Tuberkulose. Die auftretenden Silikatnebel und Kupferdämpfe wirkten nach wenigen Monaten tödlich. Robert Sand hatte Glück, das er nicht auf Dauer in dieser Todeszone arbeiten musste, sondern mehr beim Abladen und Transportieren von Kupfererz aber auch das war eine ungeheuere Knochenarbeit. Wenn man mehrere Jahre in einem solchen Lager mit strengstem Regime einsitzt, dann durchläuft man in der Regel viele Kommandos. So war Robert Sand auch einmal bei der Ziegelbrigade gelandet. Hier wurden Ziegel gebrannt, die für eine 4 m hohe Mauer rund um das Lager eingesetzt wurden. Die Trennmauer zum Frauenlager war gar 5 m hoch
Im Sommer 1954 kam es zur „größten Revolte in der Geschichte des „Archipels Gulag“, so Alexander Solschenizyn, – und Robert Sand erlebten diesen Aufstand vom ersten bis zum letzten Tag – 40 Tage lang – mit. In seinem Buch „Der Archipel Gulag“(Schlussband) hat Alexander Solschenizyn auf den Seiten 286 – 332 „Die 40 Tage von Kengier“ ausführlich beschrieben, so das wir uns hier die Einzelheiten über diesen Lageraufstand ersparen können. Nur so viel sei gesagt: „mit wenigen administrativem Verstand begabt und jeder menschlichen Vernunft entratend, war es die Gulag – Obrigkeit selbst, die die Explosion in Kengir vorbereitet. Zuerst durch die Sinnlosen Erschießungen von Häftlingen, darunter auch Frauen, dann in dem sie kriminellen Brennstoff in die aufgeheizte Atmosphäre pumpte.“ Robert Sand erinnert sich, wie Durchbrüche durch die Mauer herausgestemmt wurden und so auch Verbindung zum Frauenlager geschaffen wurde. Wie ratlos die NKWD – Leute herumfuhrwerkten, Drohungen ausstießen und Versprechungen abgaben. Aber dieses schreckliche Ende dieser größten Revolte zeichnete sich ab, als Generäle aus Moskau eintrafen und allerhand hochrangige Genossen sich Gedanken machten, wie man diesen Aufstand niederschlagen könnte. Alexander Solschenizyn beschreibt dieses schreckliche Ende so:
Im frühen Morgen des 25. Juni 1954 entfalten sich am Himmel die Fallschirme von Leuchtraketen, kleinere Raketen stiegen von den Wachtürme auf, – und die Beobachter auf den Barackendächern wurden von Scharfschützen abgeräumt, noch bevor sie einen Laut abgeben konnten. Kanonenschüsse ließen die Luft erzittern! Flugzeuge donnerten im Tiefflug über das Lager, und ruhmreiche
T – 34 Panzer, die unter dem Tarngeräusch der Traktoren ihre Ausgangsstellung bezogen hatten, rollten von allen Seiten auf die Maueröffnung zu. (Einer kippte tatsächlich in den Graben hinter der Mauer) Mehrere Panzer zogen Stacheldraht und spanische Reiter nach sich, um sofort die Zone abzuteilen. Den anderen Panzern folgten MP Schützen mit Helmen. (Schützen und Panzersoldaten hatten vor dem Einsatz Wodka bekommen. – Wie besonders sie auch ausgebildet sein mochten. Unbewaffnete und Schlafende niederzumetzeln ist doch leichter, wenn man betrunken ist. In den angreifenden Sturmreihen liefen Funker mit Funkgeräten mit. Die Generäle hatten die Wachtürme bestiegen und leiteten beim taghellen Schein der Leuchtraketen die Aktion. Stürmt die Baracke Nr. soundso – … Kusnezow befindet sich dort und dort! Sie hielten sich nicht wie sonst, auf einer Beobachtungsstelle versteckt, denn diesmal droht ihnen keine Kugeln.
Von den Baugerüsten in der ferne verfolgten die Siedlungsbewohner die Strafaktion. Das Lager erwachte in wilden Entsetzten. Die einen warfen sich in den Baracken auf den Boden und wollten nur überleben, sie hielte Widerstand für sinnlos. Andere rüttelten sie auf und trieben sie zum Kampf. Wieder andere stürzten ins Freie, den Kugeln entgegen, sei es um zu kämpfen, oder weil sie einen raschen Tod suchten. Der 3. Lagerpunkt wehrte sich verzweifelt, es war jener Lagerpunkt, der seinerzeit mit der Revolte begonnen hatte. (Er bestand aus Fünfundzwanzig – Häftlingen, überwiegend Bandera – Leute) Sie schleuderten Steine gegen die Soldaten und Aufseher, und wahrscheinlich Rohrgranaten gegen die Panzer. Eine Baracke ging mit Hurra Rufen zweimal zum Gegenangriff über. – Die Panzer überrollten sie alle, die ihnen in die Quere kamen. Die Panzer zermalmten die Flüchtenten noch auf der Außentreppe der Baracken. Die Panzer fuhren die Barackenwände entlang und zerdrückten diejenigen, die dort Zuflucht vor den Ketten suchten. Semjon Rak und sein Mädchen warfen sich gemeinsam vor einen Panzer. Die Panzer bohrten sich in die Holzwände der Baracken und feuerten blind in die Schlafräume. Faina Eppstein erinnert sich: wie in einem Traum stürzte plötzlich die Barackendecke zusammen und ein Panzer fuhr schräg durch die Baracke, Menschenleiber überrollend. Die Frauen sprangen entsetzt von den Wagonkas. Nach dem Panzer kam ein Lastwagen und man warf sie halbbekleidet auf die Ladefläche.
Die Panzerschüsse waren blind, doch die MP – Salven waren scharf und die Bajonette echt, Manche Frauen warfen sich über die Männer, um sie zu schützen und wurden ebenfalls durchbohrt! Beljajew erschoss an diesem Morgen, eigenhändig etwa zwanzig Häftlinge. – Nach dem Kampf sah man, wie man den erschossenen Messer in die Hände legte, und wie ein Fotograf die erschossenen Banditen fotografierte. Großmutter Suprun, die Mitglied der Kommission war, starb an einem Lungenschuss. Einige flüchteten in die Aborte und wurden dort von den Salven durchsiebt. In einem Panzer saß betrunken die Lagerärztin Nagibina, nicht um Hilfe zu leisten, sondern aus Neugier, um zu schauen. – Kusnezow, einer der Revolte –Anführer, wurde in der Banja, seinem Gefechtsstand, verhaftet und auf die Knie gestoßen. Slutschenkow band man die Hände auf den Rücken, hob ihn hoch und ließ ihn niederfallen, eine Kriminellenmethode.
Dann verstummten die Schüsse. Die Soldaten riefen: „Raus treten, wir schießen nicht mehr!“ Und tatsächlich begnügten sie sich mit Kolbenschlägen. – Die einzelnen Gefangenengruppen wurden sofort durch die Maueröffnung hinaus in die Steppe geführt, vorbei an den Kengirer Konvoisoldaten, die eine Absperrung um die Zone bildeten. In der Steppe wurden sie untersucht und mussten sich auf den Boden legen, mit dem Gesicht nach unten, die Hände über dem Kopf ausgestreckt. MWD – Piloten und Aufseher gingen durch die Reihen und holten diejenigen heraus, die ihnen während der Revolte vom Flugzeug oder vom Wachturm aus aufgefallen waren.
Die „siegreichen Generäle“ verließen die Wachtürme und gingen frühstücken. Ohne einen von ihnen zu kennen wage ich zu behaupten, das ihr Appetit an einem Junimorgen vortrefflich war, und das sie ihren „Sieg“ begossen. Der Alkoholdunst beeinträchtigte in keiner Weise die ideologische Klarheit in ihrem Kopf. Und was sie in der Brust empfanden, das war außen angeheftet. – Die Zahl der Toten und Verwundeten betrug nach Erzählungen ungefähr sechshundert, nach den Unterlagen der Lagerverwaltung über siebenhundert. Mit den Verwundeten stopfte man das Krankenrevier voll – und als dort kein Platz mehr war, brachte man sie ins städtische Krankenhaus. Den Übrigen wurde erklärt, dass die Truppe nur mit Platzpatronen geschossen und die Häftlinge sich gegenseitig erschossen hätten. – Es währe verlockend gewesen, die Gräber von den Toden von den Überlebenden ausheben zu lassen. Doch damit nicht zu viel bekannt würde, besorgten das die Truppen. Dreihundert der Toden verscharrte man in einer ecke der Zone, die anderen irgendwo in der Steppe.
Den ganzen Tag lagen die Häftlinge mit dem Gesicht nach unten in der glühenden Sonne. Im Lager wurde indessen alles durchsucht, aufgebrochen und umgekrempelt. Dann brachte man Wasser und Brot in die Steppe. – Der Offizier hatten Listen vorbereitet, nach denen sie die Häftlinge aufriefen. Wer am Leben war wurde abgehakt.
Die Mitglieder der Kommission der Aufständischen und die anderen hauptverdächtigen wurden in das Lagergefängnis gesperrt, das wieder seiner ursprünglichen Bestimmung diente. Über tausend Häftlinge wurden ausgesondert und zum Abtransport in geschlossenen Gefängnissen oder nach Kohlyma bestimmt. (Wie immer hatte man die Listen halb blind zusammengestellt, und so erwischte es auch viele, die völlig unbeteiligt gewesen waren.) – So weit auszugsweise Alexander Solschenizyn zum Aufstand der Häftlinge von Kengir!
Und wie hatte Robert Sand den Aufstand überlebt? Wie alle seine Kameraden wurde er im Schlaf überrascht. Mit dem Instinkt des alten Frontsoldaten ging er zunächst einmal in Deckung, die er erst wieder verlassen musste, als er von den stürmenden Rotarmisten aus der Baracke herausgejagt und wo sie draußen mit Kolbenstößen zusammengetrieben wurden. Dann hatte sich alles so abgespielt, wie es Alexander Solschenizyn geschildert hatte. Robert Sand konnte sich später mit einer der ersten Kolonnen von je 100 Mann wieder in das Lager einziehen, wurde aber sofort wieder aussortiert und gehörte zu jenen 1000 Hauptverdächtigen, die zum Abtransport bestimmt waren, obwohl er eigentlich diesen Aufstand nur in „voller Deckung“ erlebte und überlebt hat. Sie wurden wieder vor das Lager getrieben, ohne ihr paar Habseligkeiten aus den Baracken mitnehmen zu können. Zwischenzeitlich regnete es in Strömen und sie standen Stunden fast bis zu den Knien im Schlamm, darunter auch Frauen, die fast unablässig geschrien haben.
Es war eine Tragödie von großem Ausmaß, die Sand nie vergessen wird. Das Datum des Abtransportes hat er nicht mehr genau im Sinn. Jedenfalls wurden die aufsässigen Gefangenen und diejenigen, die man dafür hielt, wieder wie üblich in Waggons zu 60 oder 80 Mann hineingepresst, wo vielleicht nur 30 Plätze gehabt hätten. Dann ging s oh – Schreck – der transsibirischen Eisenbahnstrecke entlang über Omsk – Nowosibirsk – Irkutsk – Blagoweschtschensk – Chabarowsk nach Sowjetskaja Gawan. – Man kann sich heute kaum mehr vorstellen, welche Strapazen diese Menschen durchstehen mussten, von denen aber dennoch viele unterwegs geblieben sind.
Die Restlichen hat man dann vier Wochen in einem so genannten Quarantäne – Lager festgehalten und dann, etwa 400 Männer und Frauen, auf ein Einmast – Schiff verfrachtet, das drei Tage durch die La-Pérouse – Straße (eine Meerenge, die den südlichen Teil der russischen Insel Sachalin vom Norden der japanischen Insel Hokkaido trennt) über das Ochotskchische Meer unterwegs war, um dann in Magadan in Ostsibirien anzulegen. Robert Sand war nun 12 000 Kilometer von der Heimat entfernt und man kann sich wohl leicht vorstellen, welche ungeheuere Belastung, alleine schon wegen der Tatsache der riesigen Entfernung bis zur Heimat, das für diesen Mann bedeutet haben muss. Das Lager Magadan war so weit von jeder normalen Entfernungsvorstellung positioniert, das es später noch nicht einmal den offiziellen sieben Bänden „Zur Geschichte der deutschen Kriegsgefangenen des Weltkrieges „ aufgenommen worden ist. Man hatte allerdings nur drei Deutsche in dieses Lager am letzten Zipfel Sibiriens verbracht. Robert Sand, Karl Kret und einen Russlanddeutschen, dessen Name Sand entfallen ist.
Mit bis an die Zähne bewaffneten Konvoisoldaten, die Hunde mit sich führten, hatte man den als „Schwerverbrecher“ geltenden Häftling sozusagen eine „standesgemäße“ Eskorte zugeteilt. Als sie nun endlich ihr Lager sahen, das nicht allzu weit entfernt von der Anlegestelle des Schiffes im Hafen lag, konnten die Häftlinge gleich entdecken, das die Wachtürme rund um das Lager mit schwer bewaffneten Doppelposten besetzt waren. Wenn Robert Sand über jene Zeit ins Erzählen kommt, dann wird einem bewusst, das eigentlich jedes Jahr seiner 11 jährigen Kriegsgefangenschaft eines Buches wert wäre, so viele gefährliche und unangenehme Situationen im menschlichen Grenzbereich mussten bewältigt und überstanden werden.
So wurde der Mensch in den apokalyptischen Geschehnissen an den letzten Grenzen des Lebens geformt, hartherzig und brutal und durch endlose Leidensjahre hinter Stacheldraht. So liefen sie am Abgrund entlang, endlose Scharen an endlosen Tagen! In Erlebnissen, die gar keine Erlebnisse waren, sondern ein ununterbrochenes Einerlei der Leere und Hoffnungslosigkeit.
Unser Verstand kann es gar nicht ausdenken, jahrelang die nackte Angst vor der Nichterfüllung der unerbittlichen Norm, festgelegt im ehernen Normgesetz. Angst vor dem Verlust des bisschen mageren Essens: Den so war es doch im Bergwerk, beim Straßenbau, auf dem Bauprojekten, auf den Äckern. Wer aus Schwäche seine Norm nicht erfüllen konnte erhielt weniger Brot, wurde noch schwächer, kam ins so genannte Erholungslager, wurde in Lazarette eingewiesen, kam bald nach Ansicht der sowjetischen Ärztekommission als arbeitsfähig wieder zurück auf seinen Arbeitsplatz. Und nun konnte der Kreislauf bei mehr und mehr abnehmenden Kräften und zunehmende Schwäche wieder von vorne beginnen, bleiben Angst, Hunger, Schwäche und Krankheiten gar treue Begleiter.
Und dann der Stacheldraht! Überall Stacheldraht und die ewig gleich bleibenden Gesichter, und die große Öde des Landes. Ringsum die Trostlosigkeit, die nie abreisende Propaganda, die Sehnsucht, die Herzensnot, das Heimweh, die Lieblosigkeit – und daneben der andere, der nackte Mensch, einst Kamerad, jetzt Konkurrent! Der Kranke, der Mutlose, der Heruntergekommene, der Haltlose, der Gottlose, der tierisch Gewordene, der große Hasser, der kleine Kläffer! Und all dies stündlich, täglich, monatelang jahraus – jahrein!
Und dann der Tagesablauf, noch bei Dunkelheit das Wecken, das Waschen von Hunderten unter ein paar spärlichen tropfenden Hähnen, das Verschlingen der Morgenration, die Zählung bei Regen und Sturm, in Eis und Schnee, das Warten – und immer wieder das Warten. Dann das Treiben der Wachen mit Gewehr und Maschinenpistole im Anschlag, das Treiben dieser sich schleppenden grauen, apathischen Massen Mensch durch den Menschen! Die zehn- oft zwölfstündige Fronarbeit, begleitet von dem hetzenden, anfeuernden, heißen Brüllen der sowjetischen Vorarbeiter, der zurück und das Hinsinken auf den Strohsack! Und all dies über Monate, Jahre!
Die Baracke mit dem fatalen Geruch ungewaschener Leiber und dem ständigen Schwanken zwischen Stickluft und Eiseskälte! Diese Baracke mit ihren verdreckten Glühbirnen und ihren verwanzten Pritschen, ihren tropfenden Dächern und peinigenden „Regalen für Menschen“ Und das jahrelang!. Unser Ohr mag es gar nicht hören, jahrelang. Ist das nicht ohne Ende? Wie dies meißelt und hämmert, wie da die Fassaden einstürzten und die Männer nackt da stehen, wie die hohen Herrn zu kleinwinzigen Dieben werden und die Heroen des Geistes zu Jämmerlingen. Wie sie da einander belauern und belügen, wie die Wut aufflammt über jede dumme, harmlose Gewohnheit des anderen, wie da die Tünche weggewischt wird und der Mensch wird gerufen! Robert Sand hat diese grauenhaften Zustände in bewundernswerter Haltung überstanden, – trotz der Verbannung nach Magadan.
Eines Tages hörte Robert Sand über den Lagerlautsprecher, das der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, Konrad Adenauer, am 13. September 1955 in Moskau war. Auch die Situation der restlichen Kriegsgefangenen sei besprochen worden, so munkelte man, von denen die Sowjets ja behaupteten, es gäbe keine mehr in der Sowjetunion, sondern nur rechtmäßige verurteilte Kriegsverbrecher. Es keimte ein zartes Pflänzchen von Hoffnung auf, zumal plötzlich im Lager, wo Robert Sand war, noch 17 deutsche Kriegsgefangene auftauchten, die in den Goldminen von Magadan gearbeitet haben. Wenn man euch zusammenlegt, meinten die russischen Häftlinge, werdet ihr vielleicht bald nach Hause fahren.
Und so kam es eines Tages, dass nach knapp 3 Monaten in Magadan der Rücktransport erfolgte, der nahezu genauso wie die Heimfahrt verlief. Doch es konnte bei den jetzt 20 Deutschen , die es nach Ostsibirien verschlagen hatte, keine rechte Freude aufkommen, denn mit ihnen fuhren auch viele russische Häftlinge, darunter Banditen, und man sprach davon, das die Häftlingskolonie aufgelöst werden sollte. Also war es keine Befreiung, sondern nur eine Verlegung? Und ist es ein Wunder, das niemand mehr glaubt, dass alle zweifeln. Und wieder beginnt eine Nervenkrise. Es gibt zu viele Fragen, auf die man keine Antwort findet, und wieder gibt es eine lange Fahrt auf der endlos scheinenden transsibirischen Eisenbahnstrecke.
Die Häftlinge wurden mehrfach in Städten ausgeladen, wo sie in Durchgangsgefängnissen übernachten mussten. In der Stadt Nishne – Issetsk, Gebiet Swerdlowsk war dann zunächst Endstation, und der übliche Gefangenenalltag begann wieder. Von Befreiungsgefühlen war nicht mehr viel übrig geblieben. Robert Sand arbeitete dort auf dem Bau als Stuckateur. Es ging das Gerücht um, das sie deshalb nicht entlassen werden könnten, weil der Deutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer seinen in Moskau eingegangenen Verpflichtungen nicht nachgekommen wäre!
Hoffnungslosigkeit bereitete sich unter den wenigen Deutschen aus und ein Wechselbad der Gefühle löste die Verabschiedung in Swerdlowsk durch eine Militärkappelle aus. Dabei war es so kalt, das offenbar einige Trompeten einfroren, so dass ihnen wohl kein Ton mehr zu Endlocken war. Trotzdem waren alle der Meinung, dass jetzt wieder gehofft werden darf!
Nach einer Fahrt von drei Tagen, wesendlich komfortabler als auf der Hinfahrt, wenn auch im Viehwagen, aber Strohsäcke und nicht überbelegt und relativ gut verpflegt, stoppte der Transport am 16. Oktober 1955 in Potmar, eine kleine Stadt etwa 100 km östlich von Moskau und es hieß aussteigen. Die Stimmung stieg wieder und für Robert Sand war es einfach schon eine große Erleichterung, dass er die Hölle von Dscheskasgan und Magadan hinter sich gelassen hatte und er sich wieder im europäischen Russland befand.
So rückte die Heimat näher, aber ein Begleiter ist doch dabei – die Angst! Die Angst, wie so viele Kameraden früher, noch an der Grenze herausgeholt zu werden.
Und diese Angst wird sie noch lange begleiten, wenn sie wieder in Freiheit sind. Lange noch spüren sie den Schritt des Postens hinter sich und schauen sich um, sind misstrauisch, hilflos, scheu, verbittert gegen sich und die Welt. Und wie kommen sie heim? In welche Heimat, in welche Verhältnisse? Wer versteht sie und hilft ihnen, nicht nur mit Worten? Im Lager Potmar werden Versammlungen angesetzt, hier sind jetzt noch mehr deutsche Kriegsgefangene zusammengezogen worden.
Und als es schon auf den Dezember 1955 zugeht, fordert ein deutscher Offizier die Russen auf, ihnen Weihnachtbäume zur Verfügung zu stellen. Die Antwort lautete: „Ihr braucht keine Weihnachtsbäume mehr, denn an Weihnachten seid ihr zu Hause!“ Das war für die letzten deutschen Kriegsgefangenen, die angeblichen „Kriegsverbrecher“ ein ungemein befreiender Satz, und die Zahl 13 wurde für Robert Sand zur Glückzahl, den mit dem 13. Transport fuhr Robert Sand im 13. Waggon am 134. November 1955 in Richtung Heimat. Er war aus 11 Jähriger russischer Kriegsgefangenschaft entlassen worden.
Am 16,12,1955 befand er sich endlich wieder auf deutschen Reichsgebiet und am 18. 12. 1955 traf er im Entlassungslager Friedland ein, wo diese Männer, die so unglaubliches Schreckliches erlebt und erlitten hatten, in einer ergreifenden Feier begrüßt und von einer großen Menschenmenge begeistert empfangen wurden.
Doch wieder begann für nicht wenige erneut schwere Schicksalsschläge. Und wieder gibt es Enttäuschungen, wieder Herzeleid, selbst an der Schwelle des neuen Lebens!
Da liegen nun hinter ihnen die Todeslager und die Feuernächte, die Hungerzeiten und die sibirischen Winter, die unheimlichen Gewalttaten und die Lehre aus der Lagerschule des Teufels, wo sie ein genialer Lehrmeister gelehrt, das Lüge, Betrug, Selbstsucht, Kriecherei, Charakterlosigkeit, Verrat und ein hartes Herz die eigentlich brauchbare Tugenden des modernen eigensüchtigen Menschen sei. Und keiner ist ferner von dort gewesen als er, der Heimkehrer! Keiner konnte sich mehr selbst verlieren und keiner stand dem Abgrund näher, und keiner lief ihn so haarscharf entlang!
Wie hatte man sich den dieses „Heimkehren“ vorgestellt? Waren diese Männer, die unerfüllbare Forderung stellten? Was wollten sie? – Ich will es euch sagen! – Sie wollten das, wonach sie sich all die Jahre gesehnten hatten und was ihnen endlich geschenkt wurde; – Liebe, Geborgenheit, Freiheit!
Ganz Kirrlach begrüßte Heimkehrer Sand, so lautete die Schlagzeile der „Badischen Neusten Nachrichten“ – Ausgabe Bruchsal vom 23. Dezember 1955 mit einem großen Foto von Robert Sand im Kreis seiner lieben Angehörigen. Nun war Robert Sand endlich und wirklich heimgekehrt. Die Zeitung schreibt weiter:
War sein überwältigender Empfang in der Nacht zu Sonntag ein überwältigendes Treuebekenntnis der ganzen Gemeinte Kirrlach, so gestaltete sich der Mittwochabend zu einem unvergesslichen Erlebnis nicht nur für den Heimkehrer Robert Sand, sondern für alle Beteiligten und darüber hinaus für die ganze Bevölkerung. In der überfüllten Turnhalle, wo zu Ehren des Heimkehrers die offizielle Empfangfeier stattfand, kam das Heimat – und Zusammengehörigkeitsgefühl ebenso stark zum Ausdruck, wie die Freude über die Heimkehr des letzten Kriegsgefangenen aus hiesiger Gemeinde, der mit seinen Angehörigen noch in Briefverkehr stand.
An der eindrucksvollen Feier beteiligt sich die gesamte Bevölkerung von Kirrlach und zahlreiche Festredner würdigten Robert Sand, dessen Glaube an die Heimat und das Vaterland, trotz der langjährigen Kriegsgefangenschaft ungebrochen ist. Die BNN: Überwältigt von diesem herzlichen Empfang dankte Heimkehrer Sand. Er sprach die Hoffnung aus, das bis Weihnachten alle Kriegsgefangenen aus dem Osten heimgekehrt sein mögen. Worte des Dankes fand er auch für Bundeskanzler Adenauer, dessen Initiative die Entlassung der Kriegsgefangenen mit zu verdanken sei. Am Schluss bat er alle Anwesenden, zum stillen Gedenken an die vielen, vielen, im letzten Weltkrieg gefallenen und verstorbenen Kameraden, sich von den Plätzen zu erheben. Die Feier klang aus mit den gemeinsam gesungenen Liedern „Freiheit die ich meine“ und „Großer Gott wir loben dich“, die vom Musikverein begleitet wurden.
Aufgezeichnet von Hermann Melcher, Heidelberg
Anmerkung des Autors:
Robert Sand, der mir seit unserem Kennenlernen am Volkstrauertag 2006 in Ludwigsburg ein lieber Freund geworden war, starb sehr plötzlich im Alter von 89 Jahren am 30. Oktober 2011. Durch die russischen Behörden wurde er in den ’90er Jahren vollständig rehabilitiert. Bis zum Schluss war er stolz darauf, Angehöriger des Divisionsreiterzuges 260 gewesen zu sein.
Dieser Bericht soll sein Andenken bewahren!
R.I.P. Robert!