Der folgende Bericht ist dem vermissten Major Vincon gewidmet, dessen Tatkraft es zu verdanken ist, das sich einige wenige Kameraden der 260. Infanteriedivision aus dem 7. Kessel bei Minsk bis zu den deutschen Linien durchschlagen konnten.
Die Zusammenstellung erfolgt auf Grund ausführlicher Tagebuchnotizen von Oberleutnant Dr. Theo Hornberger im Stab der 260.Infanteriedivision
Nach dem Beresinaübergang am 03. Juli 1944 stauten sich nach Westen zurück flutenden Truppenmassen in der Gegend von Minsk. Der Russe hatte den Rückzug abgesperrt und zahlreiche Divisionen des XXVII. Armeekorps (78. Sturmdivision, 25. Panzergrenadierdivision und 260. Infanteriedivision) eingekesselt. Der Rückzug und der Durchbruch aus mehreren Kesseln hatte eine Panikstimmung erzeugt, die einer Untergangstimmung gleichkam.
Die Verpflegung klappte nicht mehr, die schweren Waffen und Geschütze hatten keine Munition mehr, die Geschütze der III. Artillerie-Abteilung unserer Division mussten wegen Munitionsmangel vernichtet werden, Panzer, Sturmgeschütze und Nebelwerfer, die weder Munition noch Benzin hatten, mussten gesprengt werden. Im Westen verstärkte sich der feindliche Widerstand und im Osten drückte der Gegner hart nach und schoss mit seiner Artillerie in die wild durcheinander laufenden deutschen Truppen.
Am Abend des 04. Juli waren im Kessel von Minsk etwa 10 – 12 Divisionen eng zusammengepresst und von allen Seiten vom Feind bedroht. Die Lage schien hoffnungslos, die Führung des XXVII.Armeekorps war ratlos und die Divisionskommandeure legten ihren Befehl nieder mit der Weisung, sich einzeln oder in Gruppen nach Westen durchzuschlagen.
Karten waren keine vorhanden und noch wenige Soldaten verfügten über einen Marschkompass. Mir der Parole: „Rette sich wer kann!“ war der Befehl zur allgemeinen Auflösung gegeben. Es war eine Lage, die der einfache Soldat nicht verstehen konnte. Wie war es möglich, dass etwa 10 Divisionen, zum Teil noch gut ausgerüstet, sich selbst kampflos aufgeben sollten? Sollte dies das Ende unserer ruhmreichen Hörnledivision sein? Musste nicht die ganze Ostfront zusammenbrechen und damit Deutschland? „Rette sich wer kann!“ klang es uns in den Ohren.
Die feindliche Artillerie und die russischen Maschinengewehre, die vor uns aus westlicher Richtung knatterten, ließen uns keine Zeit unseren Gedanken nachzugehen. Die Masse der Truppe staute sich vor dem feindlichen Riegel. Ohne Befehl wurde er mit der Naturgewalt der riesigen Menschenmassen durchbrochen, die mit ohrenbetäubendem Hurra-Geschrei und blinden Schießen in dunkler Nacht den von den Russen besetzten Wald durchquerten.
Ein solcher Ausbruch dürfte in der Kriegsgeschichte wohl einmalig sein. Ohne jegliche Vorbereitung und ohne Befehl wurde der Durchbruch durch die Wucht der Massen erzwungen. Da es um die Rettung jedes Einzelnen ging, wurde er mit einer bewundernswerten Entschlossenheit und teilweise Verzweiflung geführt. Die Soldaten der verschiedenen Divisionen rannten nebeneinander in der allgemeinen Richtung nach Westen. Ein mehrerer Kilometer lange Menschenstrom wälzte sich weiter nach Westen, an dessen Spitze ein Major gewesen sein soll, der die allgemeine Marschrichtung angab. Ein Soldat machte die Bemerkung: „Die haben uns billig verkaufen wollen“ und er war stolz darauf das der Durchbruch auch ohne höhere Führung gelungen war.
Als wir in den frühen Morgenstunden nach etwa 20 Kilometer Marsch plötzlich von zwei Seiten beschossen wurden, lief alles wild auseinander. Jeder versuchte das eigene Leben zu retten. Der Versuch einiger Offiziere, die verhältnismäßigen schwachen feindlichen Kräfte durch einen organisierten Gegenangriff zu vertreiben, schlug fehl da kaum einer den anderen kannte. Am Nachmittag des 05. Juli erreichten wir ein Waldstück, in dem sich verschiedene Splittergruppen, darunter auch der Kommandeur der Panzergrenadierdivision „Feldherrnhalle“ mit drei Panzern sammelten. Wieder war der Weg nach Westen, diesmal durch starke feindliche Kräfte, gesperrt. Russische Schlachtflieger belegten in pausenlosem Einsatz unser Waldstück mit Bomben und Bordwaffen, der abgeworfene Phosphor setzte ganze Waldteile in Brand.
Im Laufe der Nacht sollte der Durchbruch gewagt werden. Der verwundete Major Vincon, Kommandeur des I. Bataillon Grenadierregiment 460, sammelte als einziger Stabsoffizier der 260. Infanteriedivision die Reste unserer Division. Insgesamt waren es etwa noch ungefähr 720 Mann, die er zusammenbrachte. Er bildete 4 Stoßgruppen, denen er Angriffziele gab. Ich befand mich bei der ersten Stoßgruppe, die Leutnant Pendt führte, während Vincon sich links davon bei der zweiten Stoßgruppe aufhalten wollte, die Leutnant Kanzleiter führen sollte. Schätzungsweise stellten sich etwa 10 000 Mann zum Angriff bereit.
Der Feind hatte jedoch unsere Absicht erkannt und wenige Minuten vor unserem Angriffsbeginn schlugen feindliche Granaten mitten in unsere Reihen ein. In der dunklen Nacht drohte zunächst alles auseinander zu rennen, doch unwillkürlich schob sich die Masse der Angreifer auf die feindlichen Linien zu und durchbrach sie. Da Leutnant Pendt nicht mehr aufzufinden war, übernahm ich die weitere Führung der 1. Stoßtruppe. Als wir aus dem Wald kamen, befanden wir uns vor einem Fluss ohne Brücke. In dem Nebel gingen wir viele Flussschleifen entlang und durchwateten schließlich den Fluss bei dem uns das Wasser bis zum Hals ging. Am anderen Ufer gerieten wir in einen feindlichen Hinterhalt und mussten in der Morgendämmerung durch das feindliche Feuer hindurch rennen, um eine schützende Mulde zu erreichen.
Etwa 30 Mann meiner Sturmgruppe erreichten ein Kornfeld, indem wir uns notdürftig verstecken konnten. In gebückter Haltung wollten wir den Gegenüber liegenden Waldrand erreichen, als plötzlich zwei russische Panzer (T34) uns beschossen. In einem geschlossenen Sprung liefen wir auf den Wald zu und verschnauften erst, als wir uns tief in dem Wald befanden. Drei Offiziere, sechs Unteroffiziere und Mannschaften beschlossen, sich hier in dem Waldesdickicht zu verstecken, um am Abend weiter zu marschieren.
Und nun beginnt die eigentliche Flucht, die nach 39 Tagen voller Gefahren und Mühen zu den deutschen Linien führte. Am 6. Juli um 06:00 Uhr morgens hörten wir Schießen im Wald und wir waren in Sorge, unser Versteck könnte entdeckt werden. Wir froren sehr in unseren nassen Kleidern und mussten so nahezu 15 Stunden liegen bleiben, in dem wir uns mit Moos gegenseitig bedeckten, um nicht entdeckt zu werden. Ein Hauptmann neben mir war am Ende seiner Kräfte, er glaubte das nicht länger aushalten zu können. Er erzählte von seiner Frau und seien zwei Kindern und gab die Hoffnung auf, sie je wieder zu sehen. Mit Müh‘ und Not konnte ich ihn davon abhalten, sich zu erschießen. So verging unter frieren und quälenden Sorgen Stunde um Stunde bis es Nacht wurde. Im Schutze der Dunkelheit traten wir den weiteren Marsch an und trafen bald auf andere deutsche Kameraden, so das unsere Zahl bald auf 80 Mann anwuchs. Ein Dorf in dem wir die Stimmen von russischen Fahrern und Geräusche von Panzern hörten, mussten wir umgehen. Als wir auf eine Waldkulisse zustrebten, schlug uns heftiges Gewehrfeuer entgegen. Wir krochen zurück, holten rechts aus und gerieten in schweres feindliches Feuer.
Wir wurden restlos versprengt, mit einem Gefreiten lag ich alleine vor einen russischen Sperrriegel. Kriechend bewegten wir uns rückwärts, 50 Meter an einem russischen Panzer vorbei und erreichte kurz vor Morgengrauen ein großes Kornfeld in dem wir tagsüber bleiben wollten.
Zahlreiche Trampelpfade ließen uns ahnen, dass noch mehrere Kameraden sich hierher gerettet hatten. Ich entfernte mich von meiner Gruppe zu einer kurzen Geländeerkundung, fand aber niemand mehr als ich zurückkam. Ich bedauerte, nicht bei der 2. Stoßgruppe bei Major Vincon gewesen zu sein. Er war wohl der erfahrenste und erfolgreichste Spähtruppführer unserer Division
Ratlos lief ich in dem Kornfeld hin und her, um meine Kameraden zu suchen. Plötzlich hörte ich einen unsichtbaren Kameraden, der auf mein leises Rufen Ruhe befiehlt. Ich war sprachlos als sich die Ähren teilten und Major Vincon vor mir stand. Es war mir wie ein himmlisches Geschenk, Major Vincon gefunden zu haben. Er war nicht allein, der Stabsarzt Dr. Badums war bei ihm. Zu dritt lagen wir im Kornfeld während die Sonne auf uns nieder brannte.
Keiner von uns dreien besaß eine Feldflasche. Seit 36 Stunden hatten wir nichts mehr getrunken. Es war eine Gluthitze und mit geschwollenen Gaumen und dicker Zunge warten wir von Minute zu Minute auf den ersehnten Abend. Gegen Mittag durchstreifen die Russen das Kornfeld; Vincon riet zur Flucht. Als wir an der anderen Ecke des Kornfeldes eintrafen, näherten auch hier die Russen mit lautem Geschrei. Wir rannten kreuz und quer, um dem Verfolgern zu entgehen. Kameraden die in Gefangenschaft geraten waren, forderten uns auf sich zu ergeben, da es doch zwecklos sei. Stundenlang rannten wir hin und her bis auch Vincon, der seien verwundeten Arm in einer Schlinge trug, erschöpft war und nicht weiter konnte.
Wenige Meter von uns entfernt, streiften die Russen vorbei, ohne uns zu bemerken. Am Abend fanden wir ein zerschossenes Auto am Ackerrand. Leider war das Kühlwasser durch chemische Zusatzstoffe ungenießbar. Zum Glück fanden wir einen alten Benzinkanister, der noch halb voll mit Wasser war. Noch nie im Leben hatten wir den Wert des Wassers so schätzen gelernt, wie hier. Auch in dem anschließenden Sumpf, den wir durchquerten tranken wir bedenkenlos das Sumpfwasser. Noch andere deutsche Soldaten waren zu uns gestoßen und nach mehrstündigem Marsch legten wir uns am Rande einer Waldlichtung zum Schlafen.
In der Morgendämmerung fanden wir am anderen Rande der Waldlichtung die Leichen von 12 ermordeten deutschen Soldaten. Sie waren ausgeraubt, die Stiefel verschwunden. Die Schusswunden ließen erkennen, dass sie vermutlich aus nächster Entfernung im Schlaf überfallen worden waren. Da der Wald bald aufhörte, versteckten wir uns in einem Dickicht. Nach kurzer Zeit hörten wir Stimmen, die sich bedenklich unserem Versteck näherten. Als die Äste in unmittelbarer Nähe krachten, rannten wir in entgegen gesetzte Richtung in das Dickicht. Wir hörten noch Schreie und Schüsse, wurden aber nicht verfolgt. Leider verlor ich bei dieser Flucht meine Pistole.
In der folgenden Nacht wanderten wir über Stock und Stein, durchquerten Sümpfe und Bäche, ohne etwas zum Essen zu finden. Der Hunger nagte und so entschlossen wir uns, in der nächsten Ortschaft um Brot zu betteln. Im Allgemeinen gelang es uns durch Klopfen am Fenster die „Matka“ zu wecken und von ihr etwas „Kleba“ und „Malako“ (Brot und Milch) zu erhalten. Weit und Breit war kein Wald zu sehen, so dass wir bei Tagesanbruch wieder ein Kornfeld aufsuchen mussten.
Tagelang lebten wir nur von wenig Brocken Brot und Sumpfwasser. Ganz selten bekamen wir einen Becher Milch. Da wir bei dieser Ernährung die Strapazen nicht durchhalten konnten, beschlossen wir in der Nacht vom 13. auf 14. Juli in einem Gehöft einige Hühner zu organisieren, um mal eine kräftige Suppe zu bereiten. Unser Vorhaben gelang uns auch. Wir fanden sogar einen alten Eimer, den wir mit halb reifen Kartoffeln aus einem Acker füllten. In dem benachbarten Wald, nicht weit von einem Bach entfernt, machten wir Feuer. Die 4 Hühner sollten für acht Mann reichen. Es schien ein wirklicher Freudentag zu werden, zumal es Dr. Badums Namenstag war. Das gute Essen gab uns Kraft zum weiter marschieren.
Als der Wald zu Ende ging, ruhten wir uns am späten Nachmittag aus. Nach einigen Stunden Schlaf, vielleicht war es auch nur eine halbe Stunde, krepierte plötzlich eine Handgranate in nächster Nähe. Russische Soldaten hatten uns entdeckt und wollten uns im Schlaf überwältigen. Wir rasten auf und davon, ließen abgeschnallte und ausgezogene Gegenstände liegen. Zum Teil ohne Schuhe ohne Rock, Vincon ohne Pistole und ich ohne Mütze, so rannten wir über ein freies Feld dem Wald zu. Wir wurden von fünf russischen Soldaten schießend verfolgt. Als wir in dem Wald verschnauften fehlten zwei Kameraden und zwei weitere Kameraden waren verwundet. Brust und Beinschuss. Ich selbst hatte einen kleinen Handgranatensplitter zwischen Kopfhaut und Gehirnschale.
Obwohl auf die Unterstützung der Deutschen Flüchtlinge die Todesstrafe gesetzt war, gaben uns die Polen immer wieder einige Lebensmittel. Eines Nachts fanden wir ein deutsches Mustergut. Wir versteckten uns in der Scheune, kochten Kartoffeln und löschten unseren Durst mit Wasser aus einem Tümpel. Ein Kamerad fand in einem zerstörten Bienenstock noch drei Honigwaben, ein ungeahnter Leckerbissen.
Mehrmals hatten wir auch Gelegenheit einen Gemüsegarten zu plündern. Diese Zwiebeln, Gelbrüben und Erbsen waren dann eine richtige Wohltat. Wenn wir nichts zu essen hatten, knabberten wir stundenlang Getreidekörner. Die Hauptnahrung waren Erdbeeren und Heidelbeeren, sowie die heranreifenden Kartoffeln auf den Feldern. Manchmal hatten wir Kartoffeln aber keinen Eimer. Dann legten wir sie ins offene Feuer, ein andermal hatten wir Eimer und Kartoffeln und schleppten beides Kilometer weit, ohne Wasser oder einen Wald zu finden.
Ein anderes Mal setzten wir morgens zwischen 04:00 Uhr und 05:00 Uhr unsere Kartoffeln auf, zusammen mir zwei Hühnern, als wir das Geräusch eines Wagens hörten. Wir sahen zwei russische Soldaten auf einem Pferdefuhrwerk und rannten fort. Jedoch folgte uns niemand. Major Vincon – der immer ein bewundernswertes Fingerspitzengefühl besaß – meinte, die Russen wären eben so erschrocken gewesen wie wir und hätten sich davon gemacht. Auf einem anderen Weg näherten wir uns unserer Kochstelle und fanden alles unversehrt. Ohne unseren Major hätten wir wieder hungern müssen.
Auf unserer Flucht mussten wir oft ausgedehnte Sümpfe überwinden. Dabei ging uns das Wasser oft bis an die Knie und die Stiefel drohten im Schlamm stecken zu bleiben. Dazu kam am 15. Juli eine glühende Sonnenhitze und die Mücken stürzten sich auf uns, wie die wilden Tiere auf ihre Beute. Da ich etwas zurückgeblieben war, verlor ich die Gruppe Vincon aus den Augen. Nur ein fußkranker Soldat war noch bei mir. Das Wasser ging uns bereits bis an den Bauch, unser Rufen blieb erfolglos und stehenbleiben konnten wir trotz unserer Erschöpfung auch nicht. Nach stundenlangem Warten sahen wir links vor uns unsere Kameraden. Die Sorge des Alleinseins war von uns abgefallen, auch wenn wir immer noch bis zum Bauch im Wasser waten mussten.
Vor uns tauchte ein Wald auf, der von drei Seiten von Sumpf umgeben war. Unglückseligerweise hörten wir dort Schüsse und Hundegebell, russische Soldaten schienen uns erkannt zu haben und während wir davon rannten, schossen die wild hinter uns her. Durch den stundenlangen Marsch in dem tiefen Wasser, waren wir so erschöpft, das jeden Augenblick unser Herz und unsere Kräfte zu versagen drohten und trotzdem mussten wir jetzt wieder um unser Leben laufen. Wieder war ich der Letzte, ich konnte kaum noch vorwärts. Vor mir stürzte ein Oberarzt, der vor wenigen Tagen zu uns gestoßen war. Er konnte sich aus eigenen Kräften nicht mehr erheben. Es gelang uns einen dichten Wald zu erreichen und so den Russen zu entkommen.
In jeder Nacht wurde mit zerschundenen Füßen immer wieder querfeldein marschiert. Drei meiner Kameraden hatten keine Schuhe mehr und die Füße waren nur noch mit Lumpen umwickelt. Von dem ständigen Waten durchs Wasser waren unsere Stiefel hart geworden und das Wundlaufen war die Folge. Manche Kameraden schnitten Löcher in die Stiefel, um den Druck an den wunden Stellen zu vermindern. Auch ich hatte eitrige Wunden an beiden Füßen. In den Ruhepausen trocknete der Eiter an den Stiefeln fest und beim Weitergehen wurde er unter Schmerzen wieder abgerissen. Es war unmöglich die Stiefel anzuziehen, sie mussten wochenlang an den Füßen bleiben.
In der Nähe von Lida marschierten wir Tagsüber querfeldein, als 30 Zivilisten mit Gewehren (Partisanen) uns aufspürten. Ein 2 ½ Kilometer langer Dauerlauf und das anschließende Durchwaten eines Flusses sowie das Verschwinden im Sumpfwald rettete uns.
Dreimal mussten wir die Memel überqueren, da wir ein großes Sumpfgebiet im Norden umgehen wollten. Am ersten Übergang stießen wir auf eine Brücke, die vom russischen Militär bewacht war. Eine Gruppe von uns war durch das heftige Feuer zurückgeschlagen worden. Vincon wollte es trotzdem wagen. Nachts kam ein furchtbares Unwetter. Es regnete in Strömen, blitze und krachte. Tastend schlichen wir uns an die Brücke heran, da man die Hand vor dem Gesicht nicht sehen konnte. Geräuschlos und langsam, Schritt für Schritt überquerten wir die Brücke. Als die Ersten am jenseitigen Ufer ankamen krachten Schüsse von allen Seiten. Ich fasste Vincon am Arm, ein anderer Kamerad klammerte sich an mich, da wir sonst einander rettungslos verloren hätten. Zu viert war es uns gelungen in der Dunkelheit die Brücke zu überqueren. Die anderen waren im Feuer versprengt worden. Triefend vor Nässe vorwärts stapfend, erreichten wir ein von Russen besetztes Dorf. Vincon drängte darauf in ein Haus zu gehen, um etwas zum Essen zu organisieren. Im ersten Haus das leer war, fanden wir einen Topf Milch und Brot. Das an der Wand hängende Gewehr nahmen wir selbstverständlich mit.
Nach vielen Marschtagen standen wir eines Morgens wieder vor der breiten Memel. Wie sollten wir denn etwa 400 Meter breiten Fluss in Kleidung und Stiefel bezwingen? Zwei Kameraden waren Nichtschwimmer. Der Versuch Holz zu einem Floß zu organisieren schlug fehl. Dabei entdeckten wir einen Kahn, den wir zu sechst etwa 100 Meter weit zum Wasser schleppten, aber der Kahn war leck und unbrauchbar.
Beim Einbruch der nächsten Nacht versuchte es einer unserer Kameraden an einer seichten Stelle hinüber zu waten. Fast schien es so, als ob er eine Furt gefunden hätte. Er kam bald wieder zurück und berichtete, das Wasser habe nur Bauchtiefe. Wir zogen die Kleider aus und nahmen sie auf die Schultern. Als wir am jenseitigen Ufer ankamen kam, plötzlich eine Untiefe. In der wir nicht mehr stehen konnten. Jetzt mussten wir Schwimmen. Mit den Stiefel um den Hals und den Kleidern mit den Hosenträgern auf dem Rücken, schwammen wir die restlichen 20 bis 30 Meter. Selbst einer unserer Nichtschwimmer war kämpfend und schreiend, er kämpfende Leibhaftig mit dem Tode, ans andere Ufer gekommen. Der andere stand noch im Fluss und schrie verzweifelt. Es ging uns durchs Herz, und wir konnten ihm nur raten, südlich des Flusses eine Übergangsmöglichkeit zu suchen. Lange mussten wir noch an unseren zurückgelassenen Kameraden denken. Aber der Kampf ums Leben ist unerbittlich.
Und bald standen wir zum 3. Mal vor dem Fluss, wenige Kilometer nördlich Grodno. Das Glück war uns diesmal hold. In einem Haus fanden wir ein Boot mir zwei Paddeln darin, das aufs Ufer gezogen war. Als es dunkel war, organisierten wir das Boot, obwohl der Hund verschiedentlich anschlug. Als wir in der Flussmitte ankamen und aus dem Schatten der Uferbäume waren, wurden wie vom Mondschein hell beleuchtet. Trotzdem kamen wir glücklich ans andere Ufer und verschwanden im Eilschritt in einem nahe gelegenen Wäldchen.
Die politische Einstellung der Polen, die seit Generationen die Russen hassten, kam uns sehr zustatten. Während sie unter der deutschen Besetzung zum Wohlstand gekommen waren, nahmen ihnen die Russen alles wieder weg. Die polnischen Frauen gaben uns Milch, Eier und Käse, orientierten uns über Weg und Steg und zeigten uns wir die russischen Posten und Streifen am besten zu Umgehen wären.
Die Polen bedauerten uns ob unserer zerrissenen Kleidung. Da ich meine Mütze verloren hatte: fragten sie oft „Offizier nix Schapki?“ Einer der Fragenden erinnerte sich, dass er zu Hause eine deutsche Soldatenmütze besaß. Er rannte nach Haus und kam nach einer Viertelstunde freudestrahlend mit der Mütze zurück, die er mir schenkte. Eines Tages trafen wir einen Burschen, der uns erzählte dass in seinem und im Nachbardorf 6 Polen seien, die gerne mit nach Deutschland wollten. Die Polen sollten nämlich von den Russen zum Kriegsdienst eingezogen werde. Sie hätten genügend Waffen und wollten gerne mit uns kommen. Major Vincon wollte es nicht. Doch die Sache schien Vorteile für uns zu haben. So ein Ruhetag, bis alle polnischen Kollegen verständigt waren, schien verlockend. Wir ließen uns in das polnische Dorf führen, wo wir Suppe erhielten und in einer Scheune schlafen konnten. Jedoch um 03:00 Uhr mussten wir wieder unser Versteck im Walde aufsuchen, bevor der Tag graute. Vergeblich warten wir am nächsten Tag. Am Abend trafen wir mit dem Anführer zusammen, der uns mitteilte dass es keinen Zweck mehr habe mit zu gehen. Deutschland stehe vor dem Zusammenbruch, Hitler sei beseitigt und der Krieg ginge in 14 Tagen zu Ende, so habe der russische Nachrichtendienst soeben verkündet.
Schon bei Lida hatten wir gehofft, die deutsche Front zu erreichen, aber immer wieder hatten sich die deutschen Truppen abgesetzt, ehe wir sie erreichen konnten. Wir hörten, dass die Front in Ostpreußen zwischen Suwalki und Augustowo verlaufen sollte. Am 07. August erkannten wir im Suwalki – Zipfel einen schwarz-weis-roten Grenzpfahl. Der Wunsch von Major Vincon von nun an nur noch in Federbetten zu Schlafen, ging allerdings nicht in Erfüllung. Die Dörfer waren alle vom Feind besetzt und schwere Tage standen uns noch bevor.
Je näher wir der Front kamen, umso schwieriger wurde es. Es schien fast aussichtslos, durch die dichte Besetzung der in die Tiefe gegliederten Front ungesehen hindurch zu kommen.
Die Abschüsse der feindlichen Artillerie waren in der Nähe zu hören. Dazwischen tönten Einschläge deutscher Granaten, wie liebe Grüße aus der Heimat. Am Abend erreichten wir eine kleine Anhöhe, von der aus wir einen riesigen See vor uns liegen sahen. Er war etwa 15 km lang und 3 km breit, mit bewaldeten Inseln in seiner Mitte. Freund und Feind schien das natürliche Hindernis ausgespart zu haben. Der Bau eines Floßes sollte uns helfen.
Major Vincon wollte am nächsten Mittag gleich an den See, um dort mit dem Bau des Floßes zu beginnen und mit einbrechender Dunkelheit übersetzten. Wir fanden gefällte Fichtenstämme und schleppten sie zum See. Aber wie sollten wir sie zusammenbinden? Auf der Suche nach einem alten Leitungsdraht, hörte ich plötzlich Schüsse hinter mir. Als ich auf meinem Fluchtweg wieder zum Floßplatz kam, waren die Kameraden verschwunden. Ich schlich in ein Dickicht, in dem wir die Nacht vorher verbracht hatten. Bei Dunkelheit hoffe ich, die Kameraden am Floßplatz wieder zu finden.
Als ich mich am Abend bis auf hundert Meter dem Floßplatz genähert hatte, stand plötzlich in 10 m Entfernung ein russischer Soldat vor mir. Er riss sein Gewehr hoch und schon krachte ein Schuss neben mir. Ich rannte auf das Unterholz zu und stürzte mich in das Buschwerk, das mich aufnehmen sollte. 5 Russen verfolgten mich und schossen mit ihren Maschinenpistolen über mich hinweg, als ich über eine Wurzel stolpernd über eine Wurzel fiel. Sie schreien „Hände hoch“ und ich glaubte die Entscheidung sei gefallen. Sollte so kurz vor dem Ziel alles umsonst gewesen sein? Ich riss mich wieder hoch und jagte keuchend davon. Dabei schlug ich einen Bogen und die Verfolger verloren meine Spur. Im Dickicht des Waldes traf ich plötzlich Major Vincon und die Kameraden wieder. Der Plan mit dem Floß über zu setzen musste aufgegeben werden.
Die Nacht vom 12. auf den 13. August war die letzte und schwierigste Etappe unserer Flucht. In der Dunkelheit schlichen wir am See entlang. Wir näherten uns einem kleinen Wäldchen und hörten die Posten sprechen. Wir hörten wie das Schloss eines Gewehres geöffnet und wieder zugeschlagen wurde. Da im nächsten Moment ein Schuss krachen konnte liefen wir so schnell wir konnten, wieder zurück. Kriechend arbeiteten wir uns durch ein niedriges Kornfeld, denn immer wieder stiegen Leuchtkugeln in der Nähe auf. Einmal waren wir wenige Meter von einem Doppelposten entfernt, der sich aber so Laut unterhielt, dass er uns nicht bemerkte.
Scheinbar musste man uns aber doch irgendwie gehört haben, denn plötzlich setzte lebhaftes Gewehrfeuer ein. Wir flüchteten in den nahen Wald und standen plötzlich vor einem russischen Bunker, vor dem zwei Russen Holz spalteten. Kriechend schlichen wir uns hier weg. Die lebhafte Feuertätigkeit auf beiden Seiten ermöglichte uns ein gutes Vorwärts kommen.
Wieder gerieten wir an zwei Doppelposten, die vor uns rechts und links im Wald standen. Die Posten waren vielleicht 10 Meter auseinander und wir gingen leise, frech und unverschämt zwischen ihnen hindurch. Als sie uns anriefen begannen wir zu laufen, so schnell uns unsere Füße tragen konnten, denn hinter uns neben uns krachten die Schüsse. Nach kurzer Zeit wurde es ruhig und wir traten aus dem Wald in ein offenes Sumpfgelände. Dichter Nebel lag auf dem Moor. Jenseits des Moores sahen wir einen dunklen Waldrand, aus dem gelegentlich Mündungsfeuer sichtbar wurde.
Anscheinend waren wir jetzt zwischen beiden Fronten. Etwa 50 Meter vor dem Waldrand blieben wir liegen und hofften deutsche Laute zu hören. Eine halbe Stunde lang warteten wir auf einen Ton, leider vergebens. Beim weiteren Vorgehen stießen wir auf Stacheldraht. Major Vincon traute der Sache nicht. Wir versuchten den Stacheldraht rechts und links zu umgehen, kamen aber immer wieder auf Stacheldraht. Plötzlich ertönte eine Stimme: „Halt wer da — Kennwort!“ In einer unbeschreiblichen Erregung riefen wir alle „Nicht schießen, wir sind Deutsche!“
Wir waren von der Größe des Augenblicks überwältigt, umarmten einander und fielen unserem treuen Major um den Hals. Fast taumelnd vor Freude folgten wir dem deutschen Soldaten zum Gefechtsstand des Kompanieführers. Es war am 13. August 01:00 Uhr nachts, als wir im Bunker des Kompanieführers saßen und uns mit einem Schluck Rotwein aus der letzten Flasche des Kompanieführers stärken durften.
5 Tage später stand ich vor dem Bett meiner Frau, betrachtete still unser Mädchen „Christiane Charlotte“ das uns am Tag meiner glücklichen Errettung, am 13. August 1944 geschenkt worden war. Major Vincon lag lange Zeit wegen Unterernährung im Ludwigsburger Standortlazarett und ist später bei der Verteidigung im Schwarzwald im April 1945 vermutlich gefallen. Seitdem fehlt jede Spur von ihm. In tiefer Dankbarkeit danken wir Geretteten an unseren tapferen Vincon.