Nach der Einnahme von Gomel am 22. August 1941, bei der unser Infanterieregiment 460 wesentlich beteiligt war, begann der Vormarsch auf Tschernihiw. Jeden Tag wurde dem Gegner in überaus blutigen Kämpfen Kilometer um Kilometer Boden abgerungen.
Trotz stärkstem Einsatz von schweren Panzern, Artillerie und Jagdfliegern gelang es dem zahlenmäßig überlegenen Feind nicht, uns aufzuhalten. Das Artilleriefeuer dauerte tage- und nächtelang und ständig fielen Bomben. Unser Kampfgeist wurde jedoch durch diese demoralisierenden Kriegsmittel nicht beeinträchtigt, obwohl die Erde bebte und mancher Kamerad durch Splitter verwundet wurde.
Einzig und alleine uns, der biederen alten „Infanterie zu Fuß“ gebührt der Ruhm dieser vollbrachten Taten. Meist allein – ab und zu durch ein Sturmgeschütz unterstützt – räumten wir die raffiniert angelegten und hervorragend getarnten Stellungen der Russen. Wir kämpften mit unaufhaltsamer Wucht und einem unbändigen Kampfeswillen, hatten oftmals aber auch großes Glück.
Wir griffen ein stark besetztes Dorf an, warfen die Russen zurück und erreichten den Ortsausgang. Hinter dem Dorf, auf einer Höhe lagen Russen etwa in Bataillonsstärke, dahinter befand sich ein weiteres – stark besetztes – langes Straßendorf, unser vorläufiges Angriffsziel. Als wir am Dorfausgang ankamen, empfing uns starkes MG-Feuer. Als ich vor mir ein Mündungsfeuer aufblitzen sah, warf ich mich in eine Ackerfurche in Deckung. Über mir fegten die Garben das Kartoffelkraut weg, die Fetzen flogen herum. Der Gegner hatte mich an der Uniform als Offizier erkannt! Der nächste Sprung brachte mich in den Straßengraben der zum nächsten Dorf hin führte.
Kaum hatte ich Deckung gefunden hörte ich ein scharfes „Fauchen“ keine 5 Meter neben mir. Eine Granate eines sowjetischen Granatwerfers (möglicherweise eines M1937 82mm Mörsers) war zu mir in den Graben gefahren. Ich musste mich blitzschnell entscheiden ob ich trotz des MG-Feuers aufspringen oder liegenbleiben sollte. Ich blieb in Deckung und ein kleines Wunder geschah – die Granate hatte versagt, der Zünder war abgesprungen, sie verbrannte brodelnd neben mir im Graben. Das war knapp!
Das nächste Dorf wurde im Sturm genommen! Bei Einbruch der Dunkelheit – wir waren etwa 10 Kilometer weiter vorgestoßen – wollten wir uns in einem Dorf einrichten, um den nächsten Tag abzuwarten. Kaum hatten wir unser Lager bezogen, begann der Gegner mit einer Batterie 15cm-Geschützen systematisch das Dorf und die Umgebung zu beschießen.
Mit meinem Kommandeur, dem Spieß und einem Melder wollte ich gerade einem Einschlag ausweichen, als die nächste Granate zwischen uns detonierte! 2 Tote, der Kommandeur schwer verwundet und ich unverletzt! Schon wieder heulte etwas heran und explodierte dicht neben mir. Ich dachte es hätte mich nun auch erwischt, etwas Heißes schleuderte mich einige Meter weg. Doch ich konnte stehen, spürte nur einen leichten Schmerz beim Gehen. In der nächsten Deckung zog ich mein Hemd aus und holte den Sanitäter. Ein Splitter war flach an meine Seite geschlagen, hatte meinen Mantel durchschlagen und mir eine starke Prellung und einen blauen Fleck zugefügt!
Auf diese Art stürmten wir seit etwa 3 Wochen von Gomel aus nach Süden bis an den Ostrand von Tschernigow, verfolgten die ausweichenden russischen Truppen die uns mit ungeheurem Waffeneinsatz und dauernden Gegenangriffen aufzuhalten versuchten.
Aber er hatte sich verrechnet – alle herangeführten Verstärkungskräfte wurden von uns vernichtet oder gefangen genommen. Minensperren, Einsatz von Phosphorgranaten, gesprengte Brücken – alles wurde überwunden, obwohl wir teilweise bis zum Bauch durch Sümpfe waten mussten.
Die sowjetischen Soldaten hatten sich wochenlang entlang der Vormarschstrecke eingegraben, es gab keinen Tag ohne Nahkämpfe in diesen Stellungen. Am 08. September stand ich vor einer riesigen Brücke über die Desna, die etwa 4 Kilometer entfernt war. Sie musste vor der Dunkelheit genommen werden, denn sie stellte die letzte Möglichkeit für die Russen zum Ausweichen dar.
Meine Kompanie war im Bataillonsstreifen vorn eingesetzt, unser Angriffsziel war die Brücke. Beim Vorgehen schlug uns heftiges Feuer entgegen. Es pfiff, röhrte, orgelte und knallte rings um uns herum – die Hölle brach los! Die Kompanie arbeitete sich katzenhaft unter Einsatz von Handgranaten voran.
Eine Gruppe und mein Kompanietrupp waren in meiner Nähe, ein Zug links hinter mir schoss sich verbissen fest, der andere Zug weiter hinten kam nicht weiter voran, das russische Abwehrfeuer war zu stark.
Der Gegner kämpfte verzweifelt, er wusste dass seine Artillerie und die Truppe in der Stadt abgeriegelt sind, wenn er die Stellung nicht hielt. Ich brachte dann meine Schützen mit Gewehrgranatgerät zum Einsatz. Schnell wurden zwei russische Maschinengewehre in 400 Meter Entfernung bekämpft. Die Gruppe neben mir führte einen Feuerüberfall auf russische Kräfte durch. Die ersten Sowjetsoldaten ergriffen die Flucht, wir stießen nach.
Insgesamt machten wir 160 Gefangene, erbeuteten 9 Maschinengewehre, 2 Geschütze sowie Gewehre und Maschinenpistolen in großer Zahl.
Die Brücke war in unserer Hand. Leider ließ es sich nicht verhindern, dass ein kleiner Teil der aus Holz gebauten Brücke abbrannte. Als ich die Brücke betrat kippten auf der anderen Seite 3 Russen Benzinfässer aus und zündeten sie an. Diese Tat bezahlten sie mit ihrem Leben. Etwa 600 Meter der Brücke blieben erhalten. Das Zündkabel lies ich sofort abschneiden und baute in der Nacht noch die unheimliche Hauptladung aus.
Nach 5 Tagen war der Schaden behoben und der Verkehr auf der Hauptstraße Kiew – Tschernigow konnte wieder in vollem Umfang aufgenommen werden. Der nächste Tag (09.09.) galt der Verfolgung der zurückflutenden Russen nach Süden.
Die Fahrräder meiner Kompanie waren während der Kämpfe der vergangenen Tage zurückgelassen worden und wurden nun nach und nach auf LKW herangeführt. Zwei Züge hatten die Räder bereits erhalten und fuhren mit besonderem Auftrag nach vorn. Ich folgte mit dem Wagen etwas später nach. Wir waren etwa 10 Kilometer gefahren, als die Nacht hereinbrach. Von meinen beiden Zügen fand sich keine Spur, sie mussten also noch weiter gefahren sein.
In einem Wald sah ich rechts und links eigene Infanterie – so nahm ich jedenfalls an – vorgehen. Ahnungslos fuhr ich 1 ½ Kilometer weiter. Plötzlich sah ich rechts an der Straße einen Lastwagen stehen um den etwa 30 bis 40 Soldaten herumstanden. Ich ließ halten um zu fragen, ob meine beiden Züge schon durchgekommen sind. Als ich die Türe in der Hand hielt fuhr mir der Schreck in die Glieder – ein Russe! Da kam auch in die anderen Soldaten Bewegung, ein russischer Schrei, ich verschoss mein Magazin und brülle: „Raus aus dem Wagen, wir sind bei den Russen!“
Zwei meiner Mitfahrer sah ich abspringen und über die Straße verschwinden, ich rannte hinterher. Um uns herum wimmelte es plötzlich von Russen. Wir verschossen unsere Munition und schlichen von Busch zu Busch, lagen vier Stunden regungslos unter einer Kiefer.
Die Russen suchten uns vergebens, uns gelang es uns langsam zu den eigenen Linien zurück zu arbeiten wo wir gegen 3 Uhr morgens ankamen.
Meine beiden Züge waren weit vor dem Wald in Deckung gegangen, hatten mich durchfahren sehen, konnten mich aber nicht aufhalten. Unser 4. Mann kehrte leider nicht zurück, wir fanden später an der Stelle nichts mehr außer 2 tote russische Soldaten. Mein Wagen war verschwunden.
Seit dem 12. September sind wir wieder auf dem Marsch Richtung Osten jedoch ohne Feindberührung.
Wolfgang Valet, Kompaniechef Radfahrkompanie, Infanterieregiment 460
(Briefauszug vom 17.09.1941)