Nach der Einnahme von Kaluga am 11. / 12. Oktober 1941 folgte der weitere Vorstoß der 260. Infanteriedivision in Richtung Moskau. Unsere Division drehte nach den Kämpfen bei Petritschewa etwas nach Südosten ab in Richtung der Stadt Alexin an der Oka.
Unser I. Bataillon des Infanterieregiment 470 unter Hauptmann Krämer hatte zuvor bei den Kämpfen um Petritschewa große Verluste erlitten, musste aber trotzdem erneut zum Angriff antreten. In der Nacht vom 21. auf den 22. Oktober hatten wir eine Sicherungslinie vor dem Tags zuvor gestürmten Dorf in ziemlich offenem Gelände aufgebaut. Durch den anhaltenden Regen war der Boden in einen morastigen Schlamm verwandelt worden, Eingraben war unmöglich; so standen wir in der regennassen und kalten Nacht jeweils vier Stunden lang auf Posten, denn durch die großen Ausfälle war es nicht mehr möglich mit einer zweistündigen Ablösung durchzukommen. Die Kompaniestärke betrug noch etwa 35 – 50 Mann.
Am regnerischen Morgen des 22.10. ging eine Reiterpatrouille des Infanterieregiment 470 (Major Strohm) auf Spähtrupp. Vor unserem Wald, ungefähr 2 Kilometer vor unserem Dorfrand, konnten wir die Patrouille noch ohne Fernglas sehen, da erhielten sie auch schon Feuer. Das I. Bataillon, Infanterieregiment 470 trat nun gegen 08:00 Uhr zum Angriff an, rechts 1. Kompanie, in der Mitte die 3. und links die 2. Kompanie. Die ersten 500 bis 800 Meter wurde der Angriff zügig vorgetragen, wenn man das noch so nennen kann in dem knietiefen Dreck. Beim nächsten Sprung waren wir mehr „Schlammigel“ als Krieger. Auch Werfergranaten und „Ratsch-bumm“ (Anm. des Verfassers: Geschosse einer 76-mm-Divisionskanone M1942 bei der man Abschuss- und Einschlagsknall kaum unterscheiden konnte) jagte der Feind herüber. In diesem offenen Gelände sind wir eine gute Zielscheibe.
Schnell traten die ersten Verluste ein. Der Laubwald wurde durchstoßen. Vor uns lag eine 80 Meter tiefe freie Wiesenfläche, am Ende der Grünfläche zogen sich Kusseln entlang. Der obere Rand der anschließenden Geländesenke war das Ziel unseres nächsten Sprungs. Kurze Verschnaufpause, in Stellung gehen, „Feuer Frei“.
Nun aber runter in die Senke. Weiter, was die Füße leisten, den Hang hinauf, in Stellung gehen, beobachten und dann wieder hinein knallen. Der Befehl zum Sturm kommt durch. Ein schwerer Kampf Mann gegen Mann entbrennt. Handgranaten detonieren, Schreien und Stöhnen begleiten unseren Angriff. Die ersten feindlichen Schützennester werden überrannt. Vom Dorfausgang ballert eine Panzerabwehrkanone noch zwischen uns und die Russen. Dies rennt unser Kamerad Hengel noch alleine über den Haufen, die nachfolgenden Kameraden nehmen die Bedienung mit Geschütz samt Panjepferd in Besitz. Hengel zwingt sogar die Kanoniere nach einer Kehrtwende auf die eigenen zurückweichenden Kameraden zu schießen. Eine Bravourleistung unseres Kameraden Hengel. (Später stellte sich heraus, das sein Gewehr weder geladen, noch seine Handgranaten scharf waren. Oft hat Hengel „für sich selbst“ Krieg geführt, zwei Jahre später ist er bei einer anderen Einheit in Stalingrad gefallen).
Aus einem Strohhaufen kommen die russischen Soldaten mit erhobenen Armen heraus und geben sich gefangen. Weiter führt der Angriff auf das Dorf. Der Gegner weicht zurück. Seine Nachhut leistet hartnäckigen Widerstand. Nach kurzem aber heftig geführtem Kampf stoßen wird durch und besetzen den südöstlichen Ausgang des Dorfes ohne Verluste.
Dort sammeln wir und richten uns notdürftig zur Verteidigung ein. Nachdem das Bataillon neu geordnet ist, treten wir auf das zweite Angriffsziel an. Ein Dorf im Talgrund liegend, etwa 2 Kilometer entfernt. Über einen kleinen Hang durch freies Ackerfeld gehen wir gegen das noch nicht sichtbare Dorf vor. Wir kommen glücklich auf der Höhe des Talgrundes an. Jetzt erst sehen wir den tiefer liegenden Ort im Grund der sich von Osten nach Westen hinzieht. Kein Schuss fällt mehr. Die Hälfte des mit Gras bewachsenen Hanges haben wir schon hinter uns gebracht, da hören wir einen dumpfen Abschuss aus Richtung Alexin.
Die Granate wühlt sich aus der Ferne durch die Stille der russischen Landschaft. Über das Dorf hinweg, hinter der Anhöhe steigt eine riesige Qualmwand haushoch auf. Das war kein einzelner Schuss, es war das Startsignal zu einem Hexenkessel der nun über uns hinein brach. Wir stürmten weiter, den Hang hinunter um das Dorf zu erreichen, um an den Panjehütten eine schützende Deckung zu suchen.
Es gurgelt und grunzt aus allen Ecken heran, stürzt sich mit greifendem Krachen auf das Dorf in dem wir Deckung suchen. Granate um Granate kracht in unseren Abschnitt. Viele der kleinen Hütten mit ihren Dächern aus Stroh stehen in Flammen. Die Feuersbrunst verbreitet eine höllische Hitze. Sollten wir uns unter den rauchenden Resten dieser Ortschaft begraben lassen?
Längst schon hat unsere eigene Artillerie wirkungsvoll eingegriffen, aber immer noch geht das rasende Feuer weiter. Dazwischen hört man die grässlichen Schreie: „Sanitäter!“ Die Hitze wird unerträglich.
Da ergreift unser Kompaniechef, Oberleutnant Kurt Raff (3. / Infanterieregiment 470) die Initiative: „Weiter vor auf die Anhöhe!“ Von Feuersbrunst und Granatenkrach aufgescheucht, erreichen wir einzeln und atemlos die Höhe und besetzen sie.
Hier sieht man nichts als Russen, die sich eben sammeln und gruppenweise zu Gegenstößen ansetzen. Unser Chef gibt in aller Ruhe seine Anweisungen. Schon peitscht unser Maschinengewehr-Feuer in die Anstürmenden hinein. Die Stellung muss gehalten werden. Inzwischen hat das Artilleriefeuer nachgelassen. Das ganze Dorf ist dem Erdboden gleich gemacht. Schwarzer, beißender Qualm und Pulverdampf liegt über dem Talgrund. Am linken Flügel ist noch heftiger Gefechtslärm zu hören. Ein Melder, dem der Schweiß von der Stirne läuft, kommt keuchend angerannt: „Zwei Gruppen des Ersten Zuges an den linken Flügel, der dritte Zug ist eingeschlossen.“ Nach heftigem Nahkampf wird der Zug heraus gehauen.
Bei der links angrenzenden 2. Kompanie (geführt von Oberfeldwebel Schweizer aus Kornwestheim), greift der Russe noch heftig an und versucht einen Einbruch zu erzwingen. Die Kompanie befindet sich in hartem Abwehrkampf. Da greift eine nachgezogene Panzerabwehrkanone der 14. Kompanie mit in den Kampf ein. Auch ein rasch vorgezogener Zug mit schweren Maschinengewehren der 4. Kompanie ist zur Unterstützung in Stellung gegangen. Unser soeben heraus geholter dritter Zug packt die Russen nun von der Seite. Mit vereinten Kräften gelingt es, den Gegner zu überwältigen. Das I. Bataillon, Infanterieregiment 470 hat seine Tagesaufgabe erfüllt und die Stellung gegen überlegenen Feind behaupten können. Aber noch geben sich die Sowjets nicht zufrieden. Als der Tag langsam zur Neige geht, dröhnt plötzlich aus Richtung Alexin dumpfes Abschussgetöse. Bald sind wir im Bilde über das geheimnisvolle Grollen. Da zischen sie heran, die 48 Geschosse der „Stalinorgel“. uns stockt der Atem! Zweite Salve! Dritte Lage!
Zehn Minuten mögen es gewesen sein, aber wir glaubten es seien Stunden vergangen. Es war das letzte Aufbäumen eines harten Tages.
Das I. Bataillon, Infanterieregiment 470 hat schwere Verluste erlitten, die Kompanien sind bis auf 20 bis 30 Mann zusammengeschmolzen.
Kurt Breuning