Anfang Juni 1944 trat eine gewisse Unruhe bei den oberen Dienststellen der Nachbardivisionen und auch bei den untergebenen Regimentern ein.
Überall wurden die Mannschaftsstärken aufgestockt; es gab Nachschub an Waffen und Munition sowie an Geräten. Alles wartete darauf, dass der Russe erneut einen Großangriff starten würde. Unsere Aufklärer meldeten enorme Panzeransammlungen beim Gegner und das in Stellung gehen von Artilleriegeschützen. Es war eine eigenartige Stimmung bei allen Truppenteilen. An vorderer Front konnte man mit bloßem Auge den Aufmarsch von Panzern und Geschützen der Russen beobachten. Man hätte mit unserer Artillerie insbesondere die Panzeransammlungen beschießen können. Nein, es tat sich nichts bei uns. Es gab sogar strenges Schießverbot. Der Russe konnte in aller Ruhe seinen Großangriff vorbereiten. Sogar die Infanterie erhielt Schießverbot.
Der einzelne Landser im Graben durfte nur in äußerster Not zum Gewehr greifen. Wir wussten nicht was man auf unserer Seite vorhatte. Dann begann ein furchtbares Trommelfeuer auf unsere Stellungen. Tagelang hämmerte es auf unsere Gräben. Die russischen Panzer setzten sich in Bewegung und stießen vor und durch unsere Linien. Jetzt trat eine Hektik bei uns ein, wie ich sie noch nicht erlebt hatte. Den tagelangen heftigen Angriffen waren unsere Einheiten nicht gewachsen. Russische Panzer schoben sich nach Westen vor und konnten von uns nicht aufgehalten werden. Im Norden und auch im Süden unseres Armeeabschnittes hatten die Russen derartige Erfolge erzielt, dass sie fast keinen Widerstand von deutscher Seite erfuhren.
Am 20. Juni hieß es: „Die Russen versuchen uns großräumig einzukesseln.“ Wir mussten uns zurückziehen. An diesem Tag schrieb ich noch flüchtig eine Karte nach Hause mit der ich mitteilte, dass ich vorerst nicht mehr schreiben könne und so Gott wolle, würden wir uns demnächst wiedersehen. Diese Karte kam noch zu Hause an. Dann ging nichts mehr.
Die Absetzbewegungen begannen. Jeden Tag eine Strecke zurück. Wenn wir glaubten, aus der russischen Umklammerung befreit zu sein, hieß es bald wieder, der Feind sei erneut rechts und links an uns vorbeigestoßen. Auf den Rollbahnen und Wegen sammelten sich lange Trecks nach Westen drängelnder Einheiten. Hier hatte die russische Luftwaffe ein leichtes Spiel. Sie konnten ungestörte Angriffe fliegen. Wenn wir einmal zwei Tage an einem Ort verweilen konnten, hieß es am Abend aber bereits wieder „Zurück Marsch, Marsch“.
Zunächst hatten wir noch unsere Gepäck-, Verpflegungs- und Küchenwagen bei uns. Als wir aber in die Nähe der Beresina kamen, mussten wir viele Fahrzeuge, besonders die schweren, zurücklassen. Wir hatten also keine Verpflegung mehr zu erwarten. Vor der Beresina stauten sich die Trecks, da es hier nur eine schmale schwimmende Holzbrücke gab. Ich habe große Teile der Rückzugsstrecke zu Fuß an der Spitze des großen Trecks zurückgelegt. An der Beresina angekommen, warteten bereits Fahrzeuge vor der Brücke, die noch verstärkt werden sollte. Als Fußgänger konnte ich jedoch hinüber. Auf der anderen Seite versteckte ich mich in einer gewissen Entfernung vom Fluss und blickte auf den Übergang. Es dauerte nicht lange, da erschienen russische Flugzeuge und bombardierten die Ansammlungen vor der Brücke und die Brücke selbst. Es gab ein furchtbares Gemetzel. Ich war froh, den Fluss der bereits Napoleon zum Verhängnis wurde, hinter mir gelassen zu haben.
Gegen Mittag zog der Treck weiter. Ich weiß nicht wie viele den Fluss überqueren konnten und wie viele von den Russen gefangen genommen wurden. Schließlich drängte alles von den Seiten auf die etwas breitere Sandstraße um nach Westen zu kommen. Von vorn, von beiden Seiten und von hinten wurden wir beschossen. So ging das Tagelang.
Die Verpflegung in meinem Rucksack ging zu Ende. Der Treck schrumpfte täglich zusammen. Fahrzeuge gab es nicht mehr. Hohe Offiziere waren nicht auszumachen. Ich sah einige Tage vorher unseren Divisionskommandeur, Generalmajor Klammt, in einen Panzer steigen und seitlich fortfahren. Es hieß, er wolle erkunden, ob wir noch Möglichkeiten hätten aus dem Kessel hinauszukommen. Er ward nicht mehr gesehen. Eines Morgens tauchte plötzlich aus dem Wald ein berittener Offizier auf und wies uns den Weg in einen Wald hinein. Doch ein anderer Offizier, der einzige Oberst und ranghöchste Dienstgrad den wir unter uns ausmachen konnten, drängte uns in eine andere Richtung. Nach kurzer Zeit erkannten wir, dass wir den richtigen Weg beschritten hatten. Der Reiter war ein Russe und führte Teile der Truppe in die Falle. Wir marschierten weiter durch Gestrüpp, durch Sumpf und Waldstücke. Stets verfolgten uns Fahrzeuge des Feindes sie beschossen uns oder warfen Bomben in unsere Reihen. Die Verluste waren groß. Ich traf nur noch selten Kameraden aus der eigenen oder einer benachbarten Einheit. Ja, es hat auch in den vergangenen Wochen derart viele Gefahren für uns Soldaten gegeben, dass man sich sehr wundern musste noch am Leben zu sein.
So verließ ich einmal den großen Treck und ging ca. 100 Meter seitlich daneben durch Feld und Flur um nicht Opfer von Fliegerbomben zu werden. Doch in diesem Falle geriet ich in große Gefahr, denn plötzlich setzte Granatwerferfeuer auf mich ein und nicht auf die große Ansammlung von Menschen auf der Straße. Diese konnten sicherlich von den Schützen nicht gesehen werden. Die Granaten schlugen links, rechts, vor und hinter mir ein. Ich hörte die Granaten und die Splitter pfeifen. Es war als wenn eine ganze Abteilung nur mich ins Visier genommen hätte. Ständig hörte ich hinter mir das bekannte Geräusch „Pflup – Pflup – Pflup“ und rund um mich schlugen die Granaten ein.
Ich lief so schnell ich konnte, dann warf ich mich zu Boden und sprang wieder auf und rannte. Ein Feuerzauber wieder nur auf einen einzigen Menschen. Ich geriet fast außer Atem vor Laufen, Niederwerfen, Aufstehen und wieder laufen. Dann merkte ich, dass die Granaten nicht mehr vor mir einschlugen, sondern nur noch hinter mir und seitlich neben mir. Noch lief ich ein Stück, dann blieb ich stehen und blickte zurück. An einem zurückliegenden Waldrand sah ich leichten Dampf von Abschüssen, die mich jedoch nicht mehr erreichten. Dann merkte ich, dass die Soldaten auf der Straße stehen geblieben waren und mein Laufen vor dem Tod beobachtet hatten. Als die Russen merkten, dass sie mich nicht mehr erreichen konnten, stellten sie das Feuer ein. Sie hatten sicherlich 30 bis 40 Schüsse auf mich abgegeben, d.h. Granaten auf mich abgefeuert. Ich stellte lediglich am linken Bein eine kleine Schramme fest, sonst war ich mit heiler Haut davongekommen. So verging kein Tag ohne Gefahrenmomente. Dann entsinne ich mich noch folgender Situation, die bereits länger zurücklag:
In ziemlich geordneter Kolonne marschierten wir noch von Fahrzeugen begleitet einen breiten Weg entlang, der jedoch an einem ca.20m tiefen Abgrund endete. Es ging rechts nicht weiter und links auch nicht. Wir Fußgänger sprangen in großen Sprüngen den Abhang hinab. Die Fahrzeuge standen am oberen Rand und wussten nicht weiter. Da versuchte ein Fahrer mit seinem Kübelwagen den Abhang hinunterzufahren. Das Fahrzeug bekam Übergewicht und überschlug sich. Ein weiteres Fahrzeug anderer Bauart versuchte es ebenfalls und rutschte tatsächlich bis unten. Weitere Fahrzeuge überschlugen sich wieder oder rollten den Abhang hinab. Es entstand schließlich ein grausames Bild der Verwüstung. Ein Fahrzeug krachte am Abgrund in das andere.
Unten sammelte ein höherer Offizier, der noch ein Funkgerät zur Seite hatte, die Masse um sich, einige tausend Soldaten. Er berichtete, dass wir von den Russen eingeschlossen seien und uns in einem Kessel befänden. Man wolle aber versuchen die Umklammerung durch die Russen zu durchbrechen. Der Versuch gelang zwar, aber der Feind hatte bereits einen neuen Ring um uns gelegt. So ging es insgesamt zwölf Mal. Unvergesslich bleibt die große Niedergeschlagenheit der Soldaten. Meine Gedanken kreisten und überschlugen sich. Tränen standen nicht nur mir in den Augen. Gedanken an Stalingrad tauchten auf, an eine Gefangenschaft in Russland. Würden die Russen überhaupt Gefangene machen? Die innere Beklemmung und Traurigkeit die uns befiel ist nicht zu beschreiben.
Die vielen Verluste, Tote die nicht begraben werden konnten, Verwundete die nicht behandelt werden konnten, vor Schmerzen schrien oder verbluteten, brachten mich zu der Überzeugung, dass in der großen Masse der Tod lauerte. Ich setzte mich von dem Treck ab und ging allein einen bewaldeten Hang hinauf. Dort traf ich weitere Kameraden die ebenso dachten wie ich.
Von der Höhe aus konnten wir beobachten, wie der Treck weiterhin beschossen wurde. Wir orientierten uns kurz und schlugen den Weg in Richtung Westen ein. Immer nur in Deckung und durch Waldungen, durch Gräben und an Hecken entlang. Dann kamen wir an riesige Felder über die wir am Tage gehen konnten. Jetzt gingen wir nur noch nachts. Am Tage versteckten wir uns im Gebüsch. So saßen wir zu sechst in einem Wald, als am Morgen ein Lautsprecher ertönte. In deutscher Sprache wurden wir aufgefordert, den Wald zu verlassen und uns zu ergeben. Dann kam Musik und danach wieder die Aufforderung, uns zu ergeben.
Wir sechs verteilten uns im Wald und suchten unter Gebüschen und Strauchwerk Verstecke. Ich fand eine kleine längliche Mulde, machte sie von Strauchwerk frei und legte mich hinein. Dann zog ich Strauchwerk und alte Blätter über mich. Besonders meine schwarzen Stiefel und mein Stahlhelm musste ich bedecken. Dann drückte ich mein Gesicht in den Dreck und verhielt mich mucksmäuschenstill. Ich hörte russische Soldaten sprechen und näher kommen. Immer näher und näher. Dann spürte ich einen Druck auf meinem Stahlhelm. Ein Russe hatte auf einen Stock getreten der halb auf dem Boden und halb auf meinem Kopf lag. Der Russe hatte nur handbreit neben meinen Helm getreten, mich aber nicht entdeckt. Mein Atem stockte, dann ließ der Druck nach und der Russe ging weiter. Die Russen, es waren mehrere, machten kehrt und gingen den gleichen Weg zurück. Dann hörte ich Schreien und lautes Gerede. Die Russen hatten drei von uns sechs Deutschen entdeckt und mitgenommen. Wir übrigen drei blieben den Tag über in dem Wald und begaben uns am Abend auf den Weg gen Westen. Wir stießen auf die große Rollbahn Minsk – Moskau, eine breite asphaltierte Straße, auf der ständig Fahrzeuge hin und her fuhren. Es waren alles russische Fahrzeuge. Nach langem Warten gelang es uns hinüberzukommen.
An der anderen Seite begann ein Getreidefeld, wahrscheinlich war es Roggen. Wir schlichen an dem Getreidefeld entlang, auf eine kleine Anhöhe zu. Plötzlich standen wir vor einem russischen Gefechtsposten (von uns Russennest genannt). Die Russen schrien, wahrscheinlich forderten sie die Parole. Ich sprang blitzschnell in ein Getreidefeld. Mir folgte ein Kamerad, während der zweite Kamerad, Fritz, von meiner Einheit, mit erhobenen Händen auf das Nest zulief und schrie: „Nicht schießen, nicht schießen!“ Die Russen verstanden ihn allerdings nicht und eröffneten das Feuer. Ich hörte Fritz nur einmal aufschreien.
Dann schossen die Russen wie verrückt in das Roggenfeld. Die Kugeln pfiffen, wurden aber von den Halmen zu Querschlägern verwandelt. Wir beide entkamen, liefen und liefen immer weiter bis wir uns vor dem nächsten Posten in Sicherheit bringen mussten. Das Maschinengewehrfeuer, dem Fritz zum Opfer gefallen war, hatte in der Gegend alle Posten aufgeschreckt. Wir taten also gut daran, uns ruhig zu verhalten.
Später schlichen wir durch Gräben und Hecken entlang bis zum Morgengrauen. Dann trafen wir weitere deutsche Soldaten, die sich ebenfalls in Richtung Westen durchschlagen wollten, und zwar in der Hoffnung, dass sie bald auf deutsche Truppen stoßen würden. Leider mussten wir feststellen, dass der Anführer einer Gruppe als erster Opfer russischer Kugeln wurde. Deswegen waren nur wenige bereit, die Gruppe anzuführen. So schlichen wir einige Nächte durch die Gegend, am Tage versteckten wir uns in Wäldern. Dann kamen wir eines Morgens in ein kleines Wäldchen in dem wir den Tag über verbringen wollten. Dieses war vielleicht 50 Meter breit und 100-120 Meter lang. Hier versteckten wir uns.
Bei Tageslicht sahen wir, dass sich unmittelbar neben dem Wäldchen ein Hügel erhob. Vielleicht 25-20 Meter hoch. Der Abhang zum Wäldchen hin war sehr steil. Auf dem Hügel bemerkten wir eine russische Maschinengewehrstellung. Im Anschluss an das Wäldchen und hinter dem Hügel verlief die große Rollbahn Minsk-Moskau. Wir befanden uns also immer wieder im Bereich der großen Straße, die von den Russen kontrolliert und gut bewacht wurde. Hunger und Durst machten uns sehr zu schaffen. Wir hatten tagelang nicht zu essen bekommen. Die Verzweiflung der Kameraden machte sich breit. Gegen Nachmittag entdeckte ich neben dem Wäldchen ein kleines Roggenfeld und daneben ein Feld mit Kartoffeln. Ich überlegte: Es könnte sein, dass an den Kartoffelstauden bereits essbare Knollen gewachsen sind. Auf allen Vieren kroch ich aus dem schützenden Gebüsch des Waldes über einen kleinen Weg entlang des Roggenfeldes bis an den Rand des Kartoffelfeldes. Dann nahm ich mein Seitengewehr und durchwühlte den Boden nach Kartoffeln. Ich fand auch tatsächlich einige Knollen.
Plötzlich vernahm ich in einer Entfernung von ca. 50 Metern Stimmen und schon knatterte eine Maschinenpistole. Von den Einschlägen der Kugeln in meiner unmittelbaren Nähe spritzte mir der Boden des Ackers ins Gesicht. Ich sah mehrere Russen und schon überschlug ich mich und landete im Roggenfeld, wo ich zunächst vor den Kugeln relativ sicher war. Wie mir der rasante Purzelbaum gelungen ist, blieb mir ein Rätsel. Das Seitengewehr war weg, in einer Hand hielt ich noch zwei Kartoffeln. Sofort schlich ich weiter durch das Roggenfeld, über den erwähnten kleinen Weg und wieder in den Wald. Dort traf ich die Kameraden erregt und verängstigt. Wir erwarteten, dass die Russen nun das Wäldchen durchkämmen würden. Also warteten wir und hielten Ausschau. Aber es tat sich nichts. Kein Russe ließ sich in der Nähe unseres Versteckes blicken. Es bestätigte sich wieder, dass die Russen einzeln sehr ängstlich waren. In großen Scharen und unter Wodkaeinfluss waren sie mutig.
Gegen ca. 9 Uhr stieß mich mein Nachbar in die Seite und sagte: „Die Russen!“ Noch mit verschlossenen Augen sagte ich: „Ganz ruhig!“ Dann blickte ich auf und sah drei russische Offiziere vor mir stehen. Sie hielten ihre Pistolen auf uns gerichtet. Ich sagte kurz und laut: „Hände hoch und Ruhe!“ Wir standen nach und nach auf und hielten die Hände hoch. Einer der Offiziere konnte ein wenig deutsch. Er sprach uns alle mit „Sie“ an. Wir gaben unsere Waffen ab und marschierten dann vor den Offizieren her, über einen breiten Weg in Richtung Westen.
Nach einer Weile kamen wir an eine Wiese auf der viele rote Waldbeeren wuchsen. Ich drehte mich um, erhob die Hände und fragte die Offiziere auf halb deutsch halb russisch, ob wir Erdbeeren Pflücken dürften. Die Russen gaben uns 10 Minuten Zeit und wir konnten Erdbeeren sammeln und essen. Dann ging’s weiter bis zum Flughafen von Minsk. Dort wurden wir anderen Russen im Unteroffizier- und Mannschaftsstand übergeben. Diese führten uns quer durch die Stadt Minsk und zu einem 20 Kilometer entfernten kleinen Waldlager.
Bei unserem Marsch durch die Stadt Minsk erlebten wir die Abneigung und den Hass gegen uns als Angehörige einer Okkupationsmacht. Wir wurden beschimpft, bespuckt, mit Stöcken und Steinen beworfen. Es war ein Spießrutenlauf im wahrsten Sinne des Wortes und unsere Bewacher trieben uns zur Eile an, denn sie wurden selbst in Mitleidenschaft gezogen und fürchteten auch die Auswirkungen einer eventuellen handgreiflichen Aktion der aufgebrachten Bevölkerung.
Ich glaub, nicht nur ich, sondern auch meine Kameraden dachten in dieser Situation an Erzählungen und Berichte über Gewaltanwendungen seitens der Zivilbevölkerung gegenüber inzwischen wehrlosen Angehörigen fremder Streitmächte. Die Gedanken in unseren Köpfen begannen zu rennen und zu jagen. „Was wird nun mit uns geschehen? Was wird man mit uns machen? Welchen Häschern werden wir ausgeliefert?“
Bilder aus deutschen Propagandaschriften standen uns vor Augen. „Die Russen machen keine Gefangenen.“ So hieß immer wieder. Die innere Not, Beklemmung und die Angst die alle empfanden, der eine mehr der andere weniger, ist kaum zu beschreiben. Ich fühle mich nicht in der Lage die seelische Stimmung, die ich empfand, auch nur annähernd wiederzugeben. Wer so etwas erlebt hat, kennt die menschliche Not in einer derartigen Situation. Wer so etwas nicht erlebt hat, kann sich meines Erachtens kaum in sie hineinversetzen.
Mir ging auch noch etwas anderes durch den Kopf. In den letzen Tagen hatte ich als Gefreiter eine Gruppe von acht Soldaten, Unteroffizier- und Mannschaftsdienstgrade, bei Nacht und Nebel durch russische Wälder und Felder, vorbei an russischen Stellungen, über stark befahrene Rollbahnen und zu einer letzten kräftigen Mahlzeit sowie zu einer Schlafstelle geführt. Diese wurde zu unserem Verhängnis, oder doch nicht? Ein Durchkommen zu unserer Front in Richtung Westen war, ohne das wir es wussten, nahezu unmöglich. Zu diesem Zeitpunkt waren die Russen bereits rund 300 Kilometer weit nach Westen vorgestoßen. Ich beruhigte mich mit dem Gedanken, dass ich acht Menschen unversehrt an ihren Leibern dem kriegerischen Treiben entführt und gesund und vielleicht auch nicht ganz hoffnungslos in die Gefangenschaft geführt habe. Von jetzt an hatte ich keinerlei Einfluss mehr auf ihren Lebensweg und ihrem Schicksal.
Auf unserem Weg durch die Stadt Minsk stießen weitere Gefangene zu uns, so dass wir am Ausgang der Stadt ca. 25 Mann waren. Bewacht wurden wir von einem Unteroffizier, vier Soldaten ohne erkennbare Rangabzeichen und einem Hund. Außerhalb der Stadt Minsk wurde eine Rast eingelegt und wir mussten uns an den Straßenrand ins Gras setzen. Dann begannen unsere Bewacher zunächst uns unsere Stiefel abzunehmen und uns ihre eigenen Fußbekleidungen zu geben. Ich musste dreimal die Stiefel bzw. die Schuhe wechseln. Jedes Mal bekam ich ein schlechteres Paar. Dann wurden die Sockenabgenommen und wir bekamen zerrissene und schmutzige Lappen für unsere Füße. Ich hatte das allerdings als nicht allzu schlimm empfunden und mich mit der Situation abgefunden. Ich war Kriegsgefangener und somit wehrlos…