Mit drei Artilleristen, zwei Funker und ich, liegen wir am Ufer der Aisne.
Gestern erhielten wir endlich die erlösende Nachricht: „Es geht los!“ Im Schutz der Dunkelheit sind wir als Artillerie-Verbindungskommando unserer westfälischen Abteilung zu den fränkischen Infanteristen gekommen. Die wenigen Nachtstunden haben uns gut getan. Um 03:00 Uhr haben wir uns an das Ufer der Aisne geschlichen, deren Überquerung wir erzwingen sollen. Noch herrscht überall tiefe Ruhe, fast friedlich rauscht das Wasser des Flusses, der Wind rauscht in den hohen Pappeln am Ufer. Die Spannung steigt, die Stunde des Handelns rückt näher: 04:45 Uhr – es geht los!
Der Donner der Geschütze erfüllt die Luft, vor uns bersten krachend die Einschläge. Granate auf Granate rauscht über uns hinweg, dann steigen Leuchtkugeln auf. Die Feuerwand vor uns rollt 200 Meter nach vorne. Währenddessen werden die ersten Schlauchboote zu Wasser gelassen. Der Bataillonskommandeur springt aus einem Granattrichter, wir folgen ihm. Der Abbau des Funkgeräts geht blitzschnell, jedoch nicht schnell genug. Inzwischen ist der Kommandeur unseren Blicken entschwunden. Wir suchen ihn und schleichen uns dabei an einer Hecke entlang. Tückisch jagen die MG-Garben durch die Luft, sprungweise arbeiten wir uns vor. Hin und her geht es, bis wir den Kommandeur wieder gefunden haben.
Wir springen ins Schlauchboot. Die französischen Waffen erreichen uns nicht, wir gelangen über den Fluss und dann weiter über den Kanal. Maschinengewehre rattern, aus verschiedenen Richtungen peitschen Gewehrschüsse. Widerstandsnester werden umgangen. Das Dorf, in dem sich der Gegner festgesetzt hat wird mit starkem Feuer belegt. Rechts brennt alles, der Rauch ist undurchdringlich, reizt die Augen und wird immer dichter.
Plötzlich stehen vor uns französische Soldaten mit erhobenen Händen. Im weiteren Vorgehen bemerke ich die ersten Gefangenen. Zunächst äußerste Zurückhaltung, schließlich reden sie mehr. Ich berichte ihnen vom Schicksal ihrer Heimatstadt, Lille sei nicht zerstört worden. Das wirkt und ich erfahre dass vor uns in Avançon 2000 Mann liegen. Weiter geht es im dichten Nebel, jeder mit der Waffe in der Hand.
Nach zwei Stunden erreichen wir bewaldete Höhen südlich der Aisne. Wir sind zwölf Mann, bei uns etwa 50 Gefangene. Von den Kompanien wissen wir nichts. Am Waldrand erreichen wir endlich einen Zug der Sechsten. Auf Befehl des Kommandeurs geht das „Bataillon“, in Wahrheit ein Schützenzug, unser Artillerieverbindungskommando, einige Melder und der Kommandeur mit seinem Adjutanten zur Verteidigung über. Wir Artilleristen sollen nun einen starken Feind mimen. Mit humorvoller Miene und eiserner Ruhe stellt der Major uns diese Aufgabe.
Bald habe ich einen geeigneten Platz mit sicherer Deckung und guter Beobachtungsmöglichkeit gefunden. Die Funker stellen schnell die Verbindung zur Abteilung her. Schweigsam sind sie uns in der Hitze gefolgt, auf dem Rücken die Last der schweren Geräte. Schweißgebadet liegen sie nun da, ohne zu rasten, nur eines im Sinn: schelle Verbindung!
Zunächst gebe ich eine Lagemeldung ab: weder rechts noch links ist es gelungen die Aisne zu überschreiten. Hinter uns bauen Pioniere im Feuer einzelner Widerstandsnester eine Brücke für die heran rollende Panzerdivision. Wir sind also alleine vorne. Unser Feuer gilt den Geschützen, Beobachtungsstellen und Feldstellungen von Avançon. Bei einem Stellungswechsel des Gegners gelingt es, zwei Artillerie-Protzen zu vernichten.
Als schließlich ein Munitionsdepot explodiert, kennt die Freude der Infanteristen keine Grenzen. Leider kommt nun die bittere Mahnung der Abteilung, Munition zu sparen. Gegen Mittag sind der Kommandeur, dazu der Adjutant und der Batteriechef nach vorne gekommen um ebenfalls den Gegner aus der vordersten Linie bekämpfen zu können. Eine besonders günstige Gelegenheit bleibt nicht aus. Gerade als unserer Infanterie die Munition ausgeht, treten die Franzosen zum Gegenstoß an. Französische Infanteristen greifen mit viel Elan aus einem Wald heraus an, man schreit nach Unterstützung durch die Artillerie. Doch auf unsere Bitte um „Feuer frei“ kommt die sachliche Mahnung des Kommandeurs nach „Verständnis für die Gesamtlage“.
Was nun? Der Abteilungskommandeur befiehlt: „Es wird geschossen!“ Der Batteriechef gibt seine Kommandos, die Schüsse liegen ausgezeichnet, etwa zwanzig mogeln wir so aus unseren Rohren.
Hinterher gibt es zwar dicke „Zigarren“ aber der Angriff ist abgewiesen und dankbare Blicke der Infanteristen gleichen den Ärger wieder aus. Wir wissen, dass wir der Panzerdivision den Übergang ermöglicht haben.
Leutnant W. Nordhoff, IV. Abteilung/ Artillerieregiment 260