Wenige wissen, wie der Verwundete während des Gefechtes geborgen wird. Der Betroffene selbst erlebt nur einen Teil der möglichen Schwierigkeiten.
Begriffe wie Verwundetennest oder Truppenverbandplatz können nur im Entferntesten andeuten, wie der Sanitätsdienst der Infanterie bei Bergung, Hilfe und Transport abläuft. Nimmt man die Gefechtsbreite eines Bataillons etwa mit einem Kilometer an, so können daraus sehr schnell schon viele Quadratkilometer an Fläche unter Beschuss liegen und mit Verwundeten geradezu übersät sein.
Wie verhalten sich Arzt, Sanitätsdienstgrad und Krankenträger gefechtsmäßig? Dabei ist zu beachten, dass der besondere Schutz des „Roten Kreuzes“ an der Ostfront nur selten eingehalten wurde. Es gab keine Patentlösung, wie die Männer während eines Gefechtes in unübersichtlichem Gelände ohne Wege, Sümpfen, Wäldern oder Sonnenblumenfeldern zu bergen waren. Das Sanitätspersonal musste mit mehr als den sieben Sinnen Behelfe ohne Ende erfinden.
Einem Infanteriebataillon stand zunächst bei Kriegsbeginn ein Sanitätsgerätewagen mit zwei Pferden zur Verfügung. Heute muss ich sagen, dass es „truppennah“ keine bessere Ausrüstung gab als diese. Allerdings konnte das Fahrzeug nur im Tross folgen und dabei im Westen wie im Osten kaum von einer festen Strasse abgehen.
Eine schwierige Aufgabe war es immer wieder, den Bedarf an Verbandmaterial, Schienen, Spritzen und anderen wichtigen Dingen während des Gefechts aus diesem Gerätewagen kilometerweit in die vordere Linie zu bringen. Wir bemühten uns um eine Lösung dieses Problems. Mein später gefallener Kamerad, Dr. Flickinger aus Münsingen, hatte eine klassisch einfache Idee: ein sehr leichtes pferdebespanntes Fahrzeug folgte mit allem Notwendigen immer seinem Bataillon. Es konnte auch in unübersichtlichem Gelände mit geringem Abstand diese Aufgabe erfüllen, wenn der Fahrer auf Draht war.
Dienstlich bestand angesichts des Kriegsstärkenachweises keine Aussicht, eine solche „Kleinsteinheit“ aufzustellen, da weder Mann noch Pferd noch Wagen vorgesehen waren. Wochenlang hatten Dr. Flickinger und einige Männer nur noch Augen und Sinne für Pferde. Fasziniert waren sie von einem Gaul direkt neben unserem Biwak. Er weidete, von Artilleristen gut bewacht, in seiner Koppel.
Im Biwakraum einer zur Verlegung bestimmten Truppe herrschten geschäftiges Treiben, verbunden mit Appellen für Mensch, Tier und Gerät auf Wiesen, Wäldern und Straßen. Solch ein scheinbares Durcheinander wurde unserem Wunschpferd zum Schicksal: es wurde vom Artilleristen zum Infanteristen!
So präsentierte man mir in der Nacht vor unserem Abmarsch in den Osten freudestrahlend einen kleinen stämmigen Braunen mit heller Mähne und struppigen Haaren um die Hufe. Sein Satteldruck störte nicht, bei uns sollte er ja nur ziehen.
Schon vor seinem Erscheinen stand für ihn ein Wohnturm aus Strohballen bereit, der ihn gegen Sicht deckte. Damit er nicht allein in diesem Verlies bleiben musste, betreute ihn ein Mann, denn das Tier könnte ja wiehern, falls es vertraute Stimmen hörte. Schon im Morgengrauen spazierten tatsächlich ein Artillerieleutnant und zwei Wachtmeister ganz beiläufig durch unser Lager und das wiederholte sich auch später, jedes Mal ohne Erfolg.
Inzwischen musste der kleine Braune einen Persönlichkeitswandel über sich ergehen lassen: das Tier durfte keinesfalls braun bleiben und sollte nun falb werden, da es ja eine blonde Mähne hatte. Wir wussten nur, dass dieser Vorgang sich bei Frauenhaar mit Wasserstoffsuperoxyd leicht erzielen lies. Dieses hatten wir in ausreichender Menge.
Offenbar zur Strafe unserer Untat misslang jedoch eine erste kosmetische Behandlung: wir schufen einen grasgrünen Gaul mit Schatten. Wenige Stunden vor dem Abmarsch. Gelungen war mir ein „Brand“, nämlich ein einrasierter senkrechter Pfeil in der Hinterhand.
Glücklicherweise konnten wir einem Drogisten mit unseren letzten französischen Franken sein Lager an schwarzem Haarfärbemittel abkaufen. Das Pferd kannte sich bald selbst nicht mehr, es war ein Rappe geworden und seine blonde Mähne hatte sich in einen schwarzen Bürstenschnitt gewandelt.
Schließlich kann es aber einem Gaul gleichgültig sein, ob er in natura oder gefärbt durch den Sand im Osten stapft.
Nach dieser Untat mussten jetzt mehrere Klippen umschifft werden: einmal war unser Tier ja völlig unetatmäßig und sollte Infanteriehafer fressen. Zum anderen musste ebenfalls überplanmäßig ein Fahrer abgestellt werden.
Der schwerste Gang aber stand mir noch bevor. Glücklicherweise hatte unser Kommandeur, Major Eugen Baur, für Sanitätsbelange immer größtes Verständnis. Nach meinem Vortrag stand uns dann auch ein Granatwerferbeutewagen zur Verfügung. Die Herkunft des Pferdes wurde dabei nicht erörtert. Die einzige Gefahr bestand nun noch in der Erkennung durch frühere Besitzer, durch Umfärben und Vermummung war dies allerdings nicht mehr wahrscheinlich.
Unser grünes Ross hieß jetzt „Harras“ und zog als Rappe seine Karette, gelenkt von dem blonden Gefreiten Ruoff aus St. Märgen; vom ersten Augenblick an verstanden sich beide prima. „Harras“ wurde unser Stolz, das ganze Bataillon kannte ihn. Gerne hätten wir ihm irgendwohin ein Rotes Kreuz gemalt, so wie auf dem Wagen den er zog.
Der taktische Befehl für Ross und Mann lautete, der Truppe im Gefechtsverband immer so zu folgen, dass beide für uns stets bereit waren. Mehrmals täglich erhielt Ruoff seine Gefechtslage und gab uns seinen Standort durch. Monatelang folgte er durch Wälder, Sümpfe und Klüfte und half sich alleine. Vom Gerätewagen beim Tross ließ er sich Verbandmaterial zustellen.
Wenn ich heute darüber nachdenke, was Fahrer und Pferd geleistet haben, dann gehört beiden die allergrößte Achtung. Immer erreichten sie ihren Haufen. Sie erlebten die Erfolge und Rückzüge des Bataillons. Sie zogen über Desna und Oka, standen in Kaluga und Kremenki, in der Hitze der Ukraine, in Herbst und Winter, Schnee und Schlamm.
Als nach der Jahreswende 1942 von ursprünglich sechs Ärzten des Regiments nur noch einer übrig und auch so mancher Kamerad unserer „Sanitätsfamilie“ und des Bataillons nicht mehr waren, veränderte sich „Harras“ ein wenig. Sein Fell hatte eine ganze Anzahl Granatsplitternarben. Zeitweise blies er mit der Atemluft frisches Blut aus. Das störte ihn sicher, aber er überstand es!
Im Wald von Browna und in Radenki erlebte er seine schwersten Einsätze. Doch auch in allernächste Nähe der feindlichen Linien blieb er mit seinem Freund gelassen. So konnten unsere Verwundeten immer versorgt werden. Ich bin sicher, dass mancher 470’er auch ihm einen Teil seines Lebens verdankt.
Schließlich hatte er schon über tausend Kilometer seine tägliche Last gezogen und dabei selten einen Stall gesehen. Immer war er ein unverzagtes Soldatenpferd gewesen. Der Gaul überstand die mörderische Kälte, oft im Schnee bis zum Hals. Er fischte nach Schneeflocken und fraß Stroh vom Dach. Er war kein Rappe mehr und brauchte es auch nicht mehr zu sein.
Als der Frühling 1942 ins Land zog und der Schnee zu Sumpf und See wurde, war „Harras“ so entkräftet, dass er eines Morgens nicht mehr aufstand. Sein Fahrer stand ihm bis zuletzt bei.
Jene Männer, die später zum Regiment kamen, kannten auch den Gefreiten Ruoff nicht mehr. „Harras“ hatte längst einen Nachfolger bekommen und in den Wäldern von Juchnow gingen beide verloren…
Dr. Eugen Schwarzkopf