Im November 1943 sind wir an der Ostfront eingetroffen, am 11. November werden wir den Truppenteilen zugewiesen.Ich kommen zum Infanterieregiment 480, mit mir gehen Karl Rapp (schon mit mir in einer Gruppe in Bergzabern), Otto Schlegel (mein Stubenkamerad), Bartl Haindle, Friedrich Fäugler (mit mir in Ettlingen im V. Zug), Fries und Guzelnig (4. Kompanie in Ettlingen). Fängler kommt zur Füsilier-Einheit.
Um ein Uhr marschieren wir in Oroschek ab und erreichen um 04:00 Uhr unser Marschziel. Mit dem 50 Pfund schweren Tornister eine echte Quälerei durch die endlose Steppe zu marschieren. Nach Ankunft Meldung beim Regimentskommandeur. Da er abwesend war empfing uns sein Stellvertreter, ein Major. So wie bisher alle Dienststellen empfing man uns sehr erfreut, obwohl man den Ersatz sonst nur schief anschaute. Nachdem wir ein Jahr als Ausbildungszeit und die Art unserer Ausbildung genannt hatten, hörten wir dauernd anerkennende Worte. Man schien ja viel von uns zu erwarten. Man wird sehen.
An der Front scheint der Zauber übrigens nach einigen Wochen Ruhe wieder zu beginnen. Heute hören wir die Stalinorgeln, Artillerie, MG-, Gewehr- und Granatwerferfeuer. Es dauert die ganz Nacht und den darauf folgenden Tag. Es bleibt aber bei Störversuchen des Gegners.
Gestern waren wir abends im Frontkino: „Das sündige Dorf“, ein ganz netter Film, der uns Umgebung, Raum und Zeit vergessen lies. In der Wochenschau wurden Bilder vom Kampf in Italien gezeigt. Ein Raunen und Murmeln ging durch den Raum, wie es eben von Menschen kommt, denen man etwas Schönes zeigt. Ich verstand diese Menschen, die zum Teil schon Jahr an der Ostfront waren. Nun hatte das Zigeunerleben ein Ende. Zum letzten Mal haben wir noch feste Unterkunftsbaracken. Morgen schon liegen wir im Grabendreck.
Wir waren zehn Tage unterwegs und haben viel erlebt und reichlich Neues gesehen. Ich habe vieles verstehen gelernt. Besondere Achtung habe ich von den Rot-Kreuz-Schwestern. Was es für eine junge Frau bedeuten muss, ihre besten Jahre hier zu versauern! Diese Schwestern leisten nicht weniger wie ein Rüstungsarbeiter zu Hause und kaum weniger wie ein Soldat hier an der Front. Am 12. November sind wir endlich vorne. Morgens melden wir uns beim Regimentskommandeur, danach marschieren wir anderthalb Stunden mit Tornister. Beim Regimentstross verstauten wir unsere überzählige Ausrüstung in Wäschesäcken.
Gegen 02:00 Uhr marschierten wir mit dem Verpflegungswagen los und erreichten unser Ziel um 04:00 Uhr. Am 13. November marschierten wir mit der Feldküche zum Bataillon. Major Helmling, unser mit dem Ritterkreuz ausgezeichneter Kommandeur, richtete einige Begrüßungsworte an uns. Er erklärte uns dass die Lage sehr angespannt sei. Wir sollten gleich als Gruppenführer eingesetzt werden. Anschließend begaben wir uns in den Melderbunker. Nachdem wir uns einigermaßen häuslich eingerichtet hatten (ich schrieb gerade an meinem Tagebuch) kam ein Unteroffizier und sagte, wir sollten uns fertig machen. Wir müssten zurück zum Tross. Mit einem Gefechtsfahrzeug fuhren wir zurück.
Die Nacht verbrachten wir in einer Hütte, zusammen mit russischen Zivilisten. Es war verdammt kalt, die Scheiben fehlten und wir frohren nicht schlecht. Heute früh marschierten wir dann nach Romano Nowinski, wo wir uns einquartierten. Nun sitzen wir hier und warten. Der Grund, weshalb wir zurück mussten, ist ein Befehl nachdem vom Jahrgang 1925 bis auf weiteres niemand an der Ostfront eingesetzt werden dürfte.
Vorne sieht es toll aus. Kaum brusttiefe Gräben, 34 Mann in einer Kompanie, dabei eine Abschnittsbreite von 1200 Metern. So alle 50 Meter ein Mann, dabei teilweise nur 20 Meter vom Gegner entfernt. Jede Nacht soll er in unseren Gräben sein.
Meinen ersten toten russischen Soldaten sah ich gestern. Die Kugeln, besonders die Artilleriegeschosse pfiffen, orgelten und dröhnten ganz schön. Zurzeit denke ich viel an zu Hause, doch das ist nicht gut. Diese Gedanken muss ich mir wohl abgewöhnen. Nun ist der zweite Sonntag in Russland vorüber. Hoffentlich bleiben wir nicht noch eine halbe Woche hier. Nachdem es den ganzen Tag über ruhig war, ging es am Abend wieder los. Die Artillerie auf beiden Seiten schoss das übliche Störungsfeuer. Plötzlich setzt der Gegner Stalinorgeln ein. Hier, in drei Kilometern Entfernung, bebte und zitterte unsere Bude als ob sie einstürzen wollte. Die deutsche Artillerie blieb die Antwort nicht schuldig. Das MG- und Gewehrfeuer hielt die ganze Zeit über an.
Die kurze Zeit zwischen Mittagessen und Dunkelheit nutze ich zum Schreiben. Den Eltern, Schwester Gertrud, die am 20.11. Geburtstag hat und Irene schrieb ich. Schade dass ich keine Post erhalten kann. Hoffentlich hat das Warten bald ein Ende. In diesem Augenblick nimmt russische Artillerie die Ortschaft unter Beschuss. Ein Einschlag muss in der Nähe des Hauses gelegen haben, denn der Verputz fiel zu Boden und die Wände schwankten bedenklich. Schlegel wurde ganz bleich. Für heute ist nun Schluss, denn das Wachs von den Hindenburglichtern ist mir gestern über das Buch gelaufen.
aus dem Tagebuch von W. Stähle