Juni 1944: Meine letzte Reise an die Front

Es ist Anfang Juni 1944 im Bremserhäuschen eines Güterzuges der Geschütze und Munition zur Front befördert, habe ich es mir bequem gemacht und versuche, mich auf die veränderte Lage einzurichten.

Mein Heimaturlaub ist unwiderruflich zu Ende und auch für mich geht der Krieg weiter. Auf der Frontleitstelle in Orscha erfahre ich von der Verlegung des Grenadierregiments 470 aus der Gegend südlich von Mogilew in meiner Fahrtrichtung von Orscha nach Ostsüdosten.

Ich genieße den sonnigen Tag und die Bummelfahrt durch die weite Ebene mit den vielen Aufenthalten. Der Wald ist weit weg und ein Partisanenüberfall unwahrscheinlich. Der Leutnant der das Sicherungskommando führt und meist neben mir sitzt, ist mir von früher bekannt. Wir haben beide einige Zeit in der gleichen Einheit verbracht, reden über gemeinsame Bekannte und Erlebnisse. Schließlich taucht ein Haus an der Bahnstrecke auf, etwas abseits einer Straße mit einigen Holzhäusern – meine Endstation.

Drei oder vier Soldaten springen von verschiedenen Güterwagen ab, auch ein paar Russinnen. Sie ziehen eilig ab, ohne Gerede. Ehe ich mich von meinem Kameraden vom Bremserhäuschen verabschiedet habe, sind alle verschwunden. Nur ein alter Mann ist zurückgeblieben. Er sitzt in sich zusammengesunken an der Hauswand neben einer Tür, die in einen Raum führt, in dem nur leere Bänke stehen. Ich spreche ihn an. Er schüttelt den Kopf, zuckt die Schultern, hebt beschwörend die Hände. Eine Verständigung ist nicht möglich.

Die Dorfstraße liegt in der ärgsten Mittagshitze. Sie ist breit wie eine Autobahn und zerfurcht wie ein Acker. Niemand bewegt sich hier. Am Dorfausgang entdecke ich einen Schilderbaum und unter den vielen Anschlägen auch ein pfeilförmiges zugespitztes Brettchen mit der Aufschrift „Tross 470“.

Die angezeigte Richtung weist über eine bucklige, freie Ebene. Sehe ich genau hin dann ist stellenweise so etwas wie ein Trampelpfad zu erkennen. Alle paar hundert Meter ragt aus dem Boden ein meterhoher Stock, an dem ein weiterer Pfeil angebracht ist, eine Bestätigung dass die Richtung noch stimmt.

Nach etwa anderthalb Stunden erreiche ich den Tross und erfahre zu meiner Überraschung, das ich dem Regiment nicht mehr angehöre und zur Armeewaffenschule in Borrisow versetzt bin und auch meine Papiere schon dort sind. Man schimpft über die neue Stellung, die nicht ausgebaut, ohne Gräben, unverdrahtet, und unvermint ist. Man klagt über Trinkwassermangel und fürchtet den bevorstehenden russischen Großangriff.

Da ich soweit gekommen bin, nehme ich auch die letzte Wegstrecke auf mich, um mich bei Oberstleutnant Strohm persönlich abzumelden, von dem ich zum Infanteristen umgeschult wurde, unter dem ich Zugführer, Kompanieführer, Ordonanzoffizier und Adjutant gewesen bin. Etwa eine Stunde Fußmarsch nach Kulakouschtschina muss ich bewältigen.

Oberstleutnant Strohm (rechts) mit Generalleutnant Hahm, dem Divisionskommandeur

Oberstleutnant Strohm (rechts) mit Generalleutnant Hahm, dem Divisionskommandeur

Der Oberstleutnant verhandelt geraden mit einem Sonderführer vom Korps, Fachmann für Trinkwasserversorgung. Seine Zeit ist knapp bemessen. Er muss noch in die Stellung. Von Strohm erfahre ich jedenfalls, welche Aufgabe mir auf der Waffenschule zugedacht ist. Als ich erwähne dass ich mich im Urlaub verlobt habe, opfert er ein paar Minuten und seine einzige Flasche Wein, um mit dem Sonderführer und mir anzustoßen. Auffallend hager ist der hochgewachsene, breitschultrige Oberstleutnant geworden, die Uniform ist ihm viel zu weit. Das Gespräch ist kurz, der eilige Abschied herzlich und für immer.

Sechs Wochen später bin ich, vor den vordringenden Russen ausweichend, mit dem Vorkommando der Armeewaffenschule von Borrisow über Minsk und Wilna bis Gehlenburg in Ostpreußen gekommen. In diesen Tagen ereignete sich das Attentat auf Hitler.

Die Schule wird aufgelöst. Mit der Abwicklung ist ein Hauptmann beauftragt, seit acht Jahren Soldat und wie ich Lehroffizier. Auf meinen Wunsch zur alten Division zurück versetzt zu werden, trifft mich seine Antwort wie ein Schlag: „Die 260. Infanteriedivision gibt es nicht mehr.“

An diesem Tag habe ich meine Waffenfarbe zu wechseln und für mich beginnt nun eine Odyssee durch die verschiedensten Einheiten

Sechs Jahre später ermittle ich als Untersuchungsrichter gegen ehemalige deutsche Soldaten, die von den Russen zu Leitern von Kriegsgefangenenlagern in Russland gemacht worden waren und denen Misshandlungen an Mitgefangenen, die nach ihrer Rückkehr Anzeige erstatteten, zu Last gelegt werden. Schon Hunderte von Zeugen habe ich vernommen, ohne dass je ein ehemaliger Angehöriger der 260. Infanteriedivision  darunter war. Jedoch am 07. Dezember 1950 erschien zur Vernehmung in Stuttgart ein Senner aus dem Allgäu, der das Ende der Division miterlebt hat.

Er berichtete folgendes:
Ein Rest der Division war irgendwo im Raume von Minsk im einen Wald versammelt, darunter Oberst Dr. Friker (Grenadierregiment 480), Oberst Strohm (Grenadierregiment 470), Major Braun (Pionierbataillon 653), und Hauptmann Franz der Divisionsadjutant. Jeder weitere Widerstand erschien damals sinnlos.

Oberstleutnant Strohm brach bald darauf mit Hauptmann Franz und einigen Wagemutigen auf, um den Durchbruch nach Westen zu versuchen. Dr. Friker ging mit den anderen in Gefangenschaft. Von Braun wissen wir dass er 1971 als pensionierter Forstmeister in der Eifel gestorben ist. OTL Strohm starb kurz nach erreichen der deutschen Linien und Oberst Friker starb 1966 nachdem er aus der Gefangenschaft zurückgekehrt war.
Dr. Rossa

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