Wenn man in einem Nachruf die Verdienste eines gefallenen Kameraden würdigt, warum sollte man da nicht auch eines treuen Pferdes gedenken?
Und wie anders soll ich meine Gefühlen, meinem Schmerz um den Verlust eines solchen Tieres Luft geben, als still und heimlich seine Geschichte niederzuschreiben, denn das raue Kriegsleben lässt große Töne und Wehklagen nicht aufkommen; dumpf und stur nimmt man nach außen jede Tragik hin. Ja man lacht und flucht und spottet lieber, um nicht Farbe bekennen zu müssen, wie es einem im Herz und Seele zu mute ist.
Es war ein Pferd, mein „Martin“, wie jedes andere und hat hier in diesem endlosen Russland sein Leben ausgehaucht wie tausende und abertausende Pferde, und doch war es für mich ein besonderes, ein ganz besonderes Pferd, mein „Martin“.
Gewiss, jeder Tierfreund mag seinen besonderen Liebling haben, den er für überaus klug, intelligent und brav findet. So war es unter den vielen Pferden, die mir anvertraut waren, eben „Martin“, mein Reitpferd. Wen konnte ich auch in ernsten und heiteren Stunden am Leid oder am Überschwang meines Herzens teilhaben lassen, wen anders als meinen vierbeinigen Freund? Ich konnte ihn verhätscheln, ich konnte ihm den Hals klopfen, konnte ihm liebe Worte sagen, die man als rauer Krieger sonst nicht über die Lippen bringt.
Und verstand er mich nicht, wenn ich seinen Namen rief? Wenn er mir schon von weitem in allen Tonarten entgegenwieherte? War es nicht ein Zeichen inniger Verbundenheit, wenn er seinen Kopf an mir scheuerte, wenn er mit dem rechten Vorderfuß vorsichtig nach mir tastete, um etwas Gutes zu erbetteln. Für andere Pferde hatte er nicht das Geringste übrig, sie ließen ihn völlig kalt.
Streifte ich ihm das Halfter ab, so folgte er mir auf Schritt und Tritt. Er sprang mir nach über Gräben und Baumstämme, über Wagendeichseln, im Zickzack um Bäume herum, immer hinter mir drein; rannte ich, rannte er auch, blieb ich dann stehen, so trat er neben mich und wartete auf das Lob und suchte mit seinem weichen Maul meine Taschen ab.
Gar manchmal war er bei Märschen und Übungen während der Rast oder Pause die Schaunummer des ganzen Bataillons. Er war fromm wie nur ein Pferd sein kann, beinahe im ganzen Regiment bekannt. Er hat nicht geschlagen und hat nicht gebissen, ließ sich gerne und überall putzen, und für ein Stücken Zucker war er für alles zu haben.
Nur einen Fehler hatte er: Unter dem Reiter war er wie umgewandelt, kaum wieder zuerkennen. Sonst wie ein Lamm – und unter dem Reiter ein kaum zu bewältigendes Ungetüm. Da setzt er das Maul auf die Brust, biss auf Zaumzeug und zog einem auf diese Weise beinahe die Arme aus dem Leib. Wehe den, der sich auf ihn setzte und mit dieser seiner Eigenart nicht vertraut war!
Einem Leutnant, der sich „Martin“ während meiner Abwesenheit einmal Satteln ließ und mit ihm alleine in Gelände ritt, ist er durchgebrannt bis in die Stadt und kam dort in einer Kurve zu Fall. Der Leutnant zog sich einen doppelten Schädelbruch zu während mein „Martin“ mit einigen Schürfungen und einer langwierigen Verzerrung im Hüftgelenk noch glimpflich davon kam.
Wenn er mit Ungestüm im gestreckten Galopp dahin fegte, konnte ihn nur eine gewaltsame Bearbeitung durch Aufwärtsparaden auf vierzig, sechzig Schritte zum Halten bringen. Er war dafür auch unumstritten das schnellste Pferd im ganzen Regiment. Er scheute kein Hindernis und mit einem unerfahrenen Reiter wäre er unfehlbar ins Verderben gerannt. Kein Graben war im zu breit, keine Böschung zu steil. Verweigern kannte er nicht, im Gegenteil, es schien, als suche er sich geradezu die Hindernisse. Einen Meter und sechzig sprang er im Springgarten ohne Reiter; Einen Meter vierzig war das Höchste, was er mit mir schon gesprungen war.
Die meisten Pferde haben einen natürlichen Herdendrang, das heißt, sie sind – selbst unterm Reiter – schlecht von der Herde ihrer Artgenossen weg zu bringen, und wenn’s oft nur zwei Pferde sind, so „kleben“ sie aneinander. Darüber aber war „Martin“ erhaben; er war allein so willig wie in der Herde.
Aber immer vorne wollte er sein, wenn mehrere Pferde und Reiter beisammen waren. Darin hatte er einen mächtigen Ehrgeiz. Musste er hinter anderen Pferden gehen, dann zuckelte er umher und zerrte und riss am Zügel, dass mir oft die Finger aufgescheuert wurden. Er war gewohnt, in raumgreifendem Schritt vornweg zu gehen.
Wenn er aber hinter einem Fahrzeug drein trottete, dann drückte er die Stirn an die Rückwand des Wagens, so dass er von der ganzen Welt nichts sah. So konnte ich ihn stundenlang allein marschieren lassen, ohne ihn anzubinden.
Wie er aussah und wo er herkam? Er war ein Kohlfuchs und in seiner guten Zeit schillerte er wie Kupfer. Besonders Kennzeichen war, das er gar keines hatte: er war weder gefesselt, noch gekrönt, noch gestiefelt, noch hatte er ein Sternchen oder eine Blesse oder eine Schnippe. Er war am ganzen Körper kupferfarbig. Auch sein schöner langer Schweif und seine gestutzte Mähne waren mit dem Fell eine Farbe.
Seinem edlen Kopf, sein Gesichtsaudruck und sein Temperament nach zu schließen, hätte er ein Vollblüter sein können, jedoch seine Beine und Gelenke und der Rumpf waren dafür etwas zu kräftig gebaut. Meiner Schätzung nach hätte er ein ungarisches Warmblutpferd sein können; doch genaues weiß ich darüber nicht zu berichten.
Ich hatte ihn im Januar 1939, nachdem ich in meinem zweiten Dienstjahr schon ein Vierteljahr als Pferdebursche zu einem Ausbildungsbataillon versetzt gewesen war, bei meiner alten Kompanie geholt. Zu jener war er einige Wochen zuvor von der SS-Schule Ellwangen gekommen. Er hatte damals schon das erhabene Alter von elf Jahren, war also ein M – Pferd – und mein Chef, der Major, dem er als Reitpferd zugedacht war, gab ihm dem Namen „Martin“.
Mein Chef selbst kam selten zum Reiten, zumal er vom Weltkrieg her einen beschädigten Arm hatte. So machte ich von der Erlaubnis, „Martin“ alle zwei bis drei Tage zu reiten, gerne Gebrauch.
Ich hatte neben meinen „Martin“ noch ein junges Remontegespann, ein herrliches Schimmelpaar, das mit seinem sprühenden Temperament in der Stadt überall Aufsehen erregte. Das wollte in einer Garnisonstadt, wo es ja von Pferden wimmelte, etwas heißen. Doch von den dreien war „Martin“ mein Liebling. Manchen Sonntagnachmittag, wenn die Kaserne still und leer standen, wenn alles ausgeflogen war, nahm ich ihn aus dem Stall und führte ihn auf dem dahinter sich ausbreiteten Exerzierplatz zu den besten Grasplätzen, die zu finden waren. Ich legte mich dann in seine Nähe und freute mich über seinen Appetit und träumte vor mich hin, zählte die Tage bis zum Herbst, wenn es heißen sollte: „Reserve hat Ruh!“
Doch statt der ruhigen Reserve kam es anders, es kam der Krieg. Bauern kamen und brachten ihre Pferde; Fahrzeuge, Geschirre, Waffen, Lederzeug, Bekleidung wurde aus dem Magazin geschleppt. Die aktiven Regimenter wurden verladen zur deutschen Grenze. Reservisten rückten in leer gewordenen Kasernen ein. Neue Einheiten wurden aufgestellt und nach vierzehntägiger Übung ging s ab, – an die Front. Mein Chef war mit dem aktiven Regiment abgerückt, und so wurde Martin mein „planmäßiges“ Reitpferd.
Zuerst ging’s ja ganz gut. Am Westwall hatten unsere Pferde außer den landwirtschaftlichen Arbeiten nicht viel zu leisten. Als dann der Feldzug gegen Frankreich begann, zogen wir in Nachtmärschen über den Schwarzwald und die Schwäbische Alb, wurden bei Reutlingen auf die Bahn verladen und befanden uns einen Tag später auf den Straßen der Eifel. Von dort begann der Marsch durch Luxemburg und Belgien, durch die Ardennen bis zur Aisne. Dort kamen wir zum Einsatz und stießen in unerhörten Gewaltmärschen südwärts, durch die Champagne, den Argonnerwald, übers Hochplateau von Langres bis tief hinein in die Bourgogne, das alte Burgunderland.
Auch mein „Martin“ hat tapfer mitgehalten. Die Strapazen des Feldzuges wurden nachher belohnt durch die üppige Ruhezeit eines ganzen Jahres. Es gab Futter in rauen Mengen und unsere Pferde waren alle rund und wohlgenährt. Mancher Bauer hätte uns darum beneidet – damals.
Doch dann ging diese Zeit jäh zu Ende: Der Feldzug gegen Russland begann. Vier Tage Bahnfahrt von West nach Ost, quer durch die deutsche Heimat. Durch Staub, Sand, Dreck und Sumpf ging der Weg an die Front, die wir unweit der Beresina erreichten. Meinen „Martin“ habe ich gleich von Anfang an geschont und führte ihn oft große Strecken am Zügel.
Ich hatte unter meinen Männern gute Pferdepfleger, denen ich „Martin“ hätte wohl anvertrauen können. Jedoch ich ließ es mir nicht nehmen, ihn selbst zu pflegen und zu versorgen. Ich putze ihn selbst, gab ihm sein nötiges Futter und Wasser, ich sattelte ihn selbst auf und ab. Des Nachts stand er beim Vormarsch immer zunächst an meinem Zelt oder meinem Erdloch an einem Baum gebunden.
Zu jener Zeit geschah es auch, das ich ihn einmal mit einer Gerte traf, die ich durch die Luft sausen ließ: er schlug nach mir aus und traf mich über dem linken Knie. Die Folge war ein Bluterguss, der sich mit der Zeit verknöcherte. Ich konnte das Bein weder strecken noch biegen.
Aber der Krieg musste doch bald zu Ende sein. Ich wollte doch nicht vorher schon nach Hause geschickt sein. Darum humpelte ich noch tagelang mit. Mit Marschieren war es bei mir allerdings nicht mehr weit her. Nun kam es mir gut zu statten, das ich mein Reitpferd bisher geschont hatte. So konnte ich jetzt reiten, nachdem fast keiner mehr ein Reitpferd hatte.
Da besonders durch die Strapazen im unwegsamen Gelände viele Zugpferde ausgefallen waren, wurden nach und nach die Reitpferde eingespannt. „Martin“ war, wenigstens bei uns, noch nie im Geschirr gegangen und es hatte wahrhaftig niemand Lust, es auf einen Versuch ankommen zu lassen. So konnte ich ihn also behalten, zumal ja auch zu Aufklärungszwecken eine kleine Zahl Reitpferde unentbehrlich waren.
Als dann die heftige Schlacht um den Brückenkopf der unteren Desna tobte und viele Verwundete zurück gebracht wurden, musste auch ich mein Bündel packen und ins Lazarett wandern. Mein Sattelzeug hatte ich vorsorglich in ein Fahrzeug verstaut und meinen „Martin“ ließ ich aus dem Desna-Brückenkopf heraus zurück zum großen Tross bringen, um ihn wenigsten aus der schlimmsten Gefahrenzone heraus zu wissen.
Der große Tross hatte am Rande eines halb zerstörten Dorfes sein Biwak aufgeschlagen. Der Weg zur Krankensammelstelle führte mich dort vorbei. Es war ein grauer September Tag und der Regen rann in Strichen vom Himmel.
Hier sah ich meinen „Martin“ noch einmal. Er stand an einem Gartenzaun gebunden, mit hängendem Kopf, nach oben gekrümmten Rücken, mit eingezogenen Schweif und eingezogener Hinterhand, das ganze wie ein Dach, an dem das Regenwasser nach allen Seiten herab rann. Als er mich kommen sah, hob er den Kopf und brummelte mir freudig entgegen. Ich ging zu ihm hin und teilte mit ihm die letzten Brotreste, die ich bei mir hatte. Und da fühlte ich erst, wie sehr er mir ans Herz gewachsen war. Er schaute mich so unbekümmert an.
Ach er wusste ja gar nicht wie mir zu Mute gewesen war. Ich hing mich an seinen Hals und weinte wie ein Kind. Meinen Kameraden konnte ich doch nicht sagen, wie schwer mir der Abschied fiel. Es war ja im Grund genommen nicht nur „Martin“ was ich zurücklassen musste: der Bataillonsstab, der Kampf, der Krieg, das alles war mir längst Heimat geworden. Jetzt erst kam es mir deutlich zum Bewusstsein. Ich kam ziemlich weit zurück, bis ins Gouvernement nach Brest-Litowsk.
Vierzehn Tage war ich unterwegs bis ich meinen Haufen wieder erreicht hatte. Nach Beendigung der Kesselschlacht bei Kiew war meine 260. Infanteriedivision in nordöstlicher Richtung abgezogen. Es war Anfang Oktober 1941. Die größte Herbstoffensive war im vollen Gang. Auf allen möglichen Beförderungsmitteln kam ich bei Roslawl zu meiner Division, derer Zeichen, das württembergische „Hirschhörnle“, mir auf dem Wegweiser und Fahrzeugen in die Augen fiel. Einige Kilometer hinter der kämpfenden Truppe traf ich den Fahrer des Regimentskommandeurs, der mich mit seinem leeren Personenwagen nach vorn mitnahm.
In dunkler Nacht erkannte ich dabei im abgeblendeten Licht des Autos in einem Infanterietross einige meiner Fahrer und stieg aus. So kam ich zu meinem Haufen. Zunächst gab es ein freudiges und erstauntes Wiedersehen; denn keiner glaubte dass ich so bald wieder kommen könnte. Nachdem ich mich nach diesem und jenen erkundigt hatte wollte ich auch nach meinen „Martin“ fragen.
Doch da knabberte er mir auch schon an meinen Achselklappen herum. Ich hatte zuerst gar nicht bemerkt, dass ich gerade neben ihm aus dem Auto gestiegen war. Etwas mager schien er mir geworden zu sein, aber sonst war er noch der Alte. Ich kramte meinen Sattel hervor und ritt gleich mit ihm vor zur Spitze, um mich beim Kompanieführer zurückzumelden, und blieb dann gleich bei der vordersten Fahrzeugstaffel. Es ging kaum recht vorwärts in der Nacht denn die Fahrzeuge steckten alle im Dreck. Die ganze Nacht ging herum mit Vorspannen, Abladen, Aufladen und Umladen. Ich kam gleich wieder richtig „in den Stiefel hinein“. So ging es weiter Tag für Tag. Wir hatten verhältnismäßig wenig Widerstand, mit Ausnahmen bei Kaluga.
Als wir dann später eines Abends den Feuerschein von Moskau am nördlichen Horizont sahen, da war es schon Winter geworden. Nun begann die eigentliche Leidenszeit, besonders für unsere Pferde. Das Futter wurde spärlich. Es kam der Rückzug, dem der von Napoléon alle Ehre macht. Manche Nacht mussten die armen Tiere im Schneesturm und bei dreißig, vierzig und mehr Grad Kälte an den Fahrzeugen stehen. Wir selbst kuschelten uns unter die Planen der Fahrzeuge in Decken gehüllt, oder standen abwechslungsweise in einer Panjehütten, um die Glieder und Nasenspitzen aufzuwärmen.
Die Pferde bekamen einen Pelz, man konnte seine Fäuste darin verstecken; wie Zottelbären sahen sie aus. Wir kamen wieder über Kaluga. Den heiligen Abend verbrachten wir bei einer Kanne voll geschmolzenen Schneewasser und getrockneten Brotwürfel, dauernd gewärtig von der Übermacht sibirischer Truppen erdrückt zu werden.
Ich hatte während dieses Rückzuges im Rahmen des gesamten Divisionstrosses den großen Tross meiner Kompanie zu führen. Wir waren kaum ein paar Tage unterwegs, da waren wir schon abgeschnitten von unserer Truppe, zogen ohne Verbindung durch den russischen Winter, ganz auf uns selbst gestellt, ein Haufen zwischen allen möglichen motorisierten und bespannten Nachschubeinheiten, hinter uns und zu beiden Seiten neben uns sowjetische Truppen.
Eines Tages, kurz vor Neujahr, konnten wir nicht mehr weiter. In den Orten die wir erreichen sollten, hatten schon die Russen Quartier gemacht. Wir waren eingeschlossen! Was da gerade herumschwirrte, Soldaten aller Waffengattungen alles musste antreten, um in Sicherungskompanien eingeteilt zu werden, und ehe ich mich versah war ich Gruppenführer einer schweren MG-Gruppe und wanderte in eine Schneestellung. Nun folgten drei Wochen ohne Verpflegungszufuhr, abgeschnitten von der eigenen Truppe. Wir versorgten die Pferde so gut es eben ging, mit Dachstroh und Kartoffeln, zuletzt meist nur noch mit Kartoffelschalen.
Es gelang uns dann, einen Durchbruch zu erzwingen. Die Sibirier die uns gegenüberstanden waren schnelle Jagdverbände und führten weder Artillerie noch Panzer bei sich. Nacht für Nacht wurden unsere Pferde und Fahrzeuge aus dem Kessel geschleust. Als alle Fahrzeuge, Pferde und Autos in Sicherheit waren, bereiteten auch wir uns zum weiteren Rückzug auf die Hauptkampflinie vor.
Am Tag vor unserem Abmarsch, ich wollte eben meinen „Martin“ eine Hand voll Kartoffelschalen bringen, da war der Schuppen leer, mein „Martin“ war verschwunden, spurlos verschwunden, ohne Zweifel gestohlen worden. Es organisierte sich in jenem Durcheinander manch’ einer ein Pferd, um seine sieben Sachen wegzubringen. Das ganze Dorf suchte ich nach „Martin“ ab, jeden Schuppen, jedes Haus ohne Erfolg. Ich hatte schon alle Hoffnung aufgegeben.
Abends gegen 16:00 Uhr, es war schon dunkel, alles stand abmarschbereit auf der Straße – an den Häusern wurden Brände angelegt, da ging ich die Kolonne entlang bis zur Spitze. Die letzten Sicherungen rückten ein. Ich kehrte wieder um, da kamen mir ein paar Panjeschlitten entgegen, die die stehende Kolonne überholten. Und gleich beim ersten Schlitten fiel mir das Pferd auf die Figur, die Haltung, der Gang – da ist mein „Martin“!
Mit einem Satz war ich bei ihm und ergriff ihn am Zügel. Trotz der finsteren Nacht hatte ich ihn erkannt. Sofort wollte ich ihn ausspannen lassen, aber auf den Hinweis des Offiziers der uns führt, musste ich einsehen, dass der Schlitten nicht stehen bleiben konnte. So musste ich meinen „Martin“ einstweilen lassen wo er war, bis wir die neue deutsche Front erreicht hatten und in Juchnow zu unserer Einheit entlassen wurden.
Nach sechswöchiger abenteuerlicher Irrfahrt stießen wir endlich auf Teile unserer Division und zu guter Letzt auch noch zu den Resten der Kompanie. Dort sah es kaum besser aus als bei uns. Mancher Fahrer, manches Pferd und manches Fahrzeug fehlte. Die Kompanie selbst bestand nur noch aus einer Kampfstärke von drei Unteroffiziere und zehn Mann. Aber die Front stand nun endgültig.
Dreißig Kilometer weiter zurück bezogen wir, der gesamte Tross, unser Quartier. Allerdings hatten wir uns sehr getäuscht, wenn wir glaubten es nun ein wenig ruhiger zu haben. Die ganze Gegend wimmelte von Partisanen und russischen Fallschirmjägern. Wir mussten uns, nachdem wir die große Rollbahn verlassen Juchnow – Smolensk verlassen hatten, buchstäblich von Dorf zu Dorf rückwärts durch kämpfen.
Nun standen in unserer neuen Dorfunterkunft insgesamt vierhundert Pferde. Für sie ging das vorhandene Heu und Stroh bald zur Neige. Wir deckten die Dächer über unseren Kopf ab und fütterten das Dachstroh. Zuletzt fuhren wir auswärts, fünfzehn und mehr Kilometer weit, um Dächer abzudecken. Dabei kam es unterwegs oft zu wilden Schießereien mit Partisanen und Fallschirmjägern, einige Male auch zu Streitereien mit deutschen Landsern, die uns das Futter streitig machten.
Unsere Pferde waren nur noch Haut und Knochen. Sie fielen in den Schuppen um und hatten nicht mehr die Kraft sich wieder aufzurichten. Meist waren sie dann von der Kälte am Boden schon ganz erstarrt. Zwei Prügel unter den Leib und an jedem Ende zwei Mann, so führten wir diese elenden Geschöpfe den Dorfweg auf und ab, und ihre steifen Beine und ihr Blut wieder in Bewegung zu bringen. Bilder waren das! Zeit meines Lebens werde ich sie nicht vergessen! Uns schmeckte das Essen selbst nicht mehr, wenn wir die armen Tiere mit ihren eingefallenen Augen sahen.
Aber wir konnten nicht helfen. Was war schon das bisschen Hafer, das die Flugzeuge, unsere brave Ju52, manchmal abwarfen! Ein bisschen Kraftfutter für die Pferde einer ganzen bespannten Division! In der Zeit von sieben Wochen lagen schon weit mehr als hundert Pferdekadaver im Dorf herum.
Auch mein „Martin“ war abgemagert aber seinen Kopf trug er immer noch hoch, und er wieherte mir immer noch zu, wenn er mich kommen sah oder hörte. Ich band in öfter los und lies ihn um die Häuser herum Strohhälmchen zusammen suchen. Aber er suchte sich noch mehr als das Zeitungspapier, Zigarettenschachteln, Fleischreste, alles verschlang er, nur um den Magen zu füllen. Jeden Tag schleiften wir tote Pferde vor das Dorf, es mochten ihrer schon dreihundert geworden sein.
Der März 1942 ging dem Ende zu und es war an der Zeit, die Pferdekadaver unter den Boden zu schaffen. An einer dieser Tage lag auch mein „Martin“ wieder am Boden. Wir hoben ihn auf aber er blieb nicht mehr stehen.
Wie er nur aussah! Knie und Sprunggelenke aufgefallen, an den Stellen mit denen er am gefrorenen Boden gelegen hatte, hingen ganze Lappen des Fells herab. Soll er nun hier so elend so erbärmlich verenden? Hatte er als Soldatenpferd nicht wenigstens eine gute Kugel verdient?
Lange stand ich bei ihm, bis ich endlich meine Pistolentasche öffnete. Ich spürte mein Herz bis zum Hals hinauf klopfen, und mein Atem ging wie nach einem schweren Ringkampf, obwohl es ja nicht das erste Pferd war, das ich mit einem wohl gezielten Schuss von seinem unheilbaren Wunden und Schmerzen erlöste.
Aber selbst meinen „Martin“ zu erschießen! Ich hätte nie geglaubt, dass ich das einmal fertig bringen würde. Doch meine Hand blieb ruhig und fest, als sie die entsicherte Pistole hielt. Ich setzte die Pistole an, hinter dem linken Ohr in Richtung des rechten Auges – und drückte ab.
Ich weis nicht wie lange ich noch hinter ihm gestanden habe, die Pistole in der Hand, und ihn anstarrte. Und ich weiß auch nicht wie mir zu Mute war. Hart wie Stein, wie ohne Herz, ohne Seele kam ich mir vor, wie ohne Gemüt. Es war als wäre alles in mir verschlossen. So hatte „Martin“ sein Ende gefunden! Man fragt nun einen jeden der in jenem Winter 1941/42 im Osten gestanden und gekämpft hat, wer am meisten zu leiden hatte! Es war der Infanterist und das Pferd, vornehmlich das Infanteriepferd.
Im April 1942 auf Meldeblockzettel aufgezeichnet von Fr. Weber, Uffz. – Stab II / 470
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