Etwa Mitte Dezember 1941 begann die russische Gegenoffensive beiderseits Moskau mit Schwerpunkten auf den äußeren Flügeln der 4.Armee und der 9. Armee. Im Abschnitt unserer 260. Infanteriedivision nahmen die Krisen ihren Anfang bei unserem rechten Nachbarn, der 52. Infanteriedivision. Diese Division stand in sehr breiter Aufstellung am Westufer der Oka, die infolge der strengen Kälte zugefroren war und somit kein Hindernis mehr dar stellte. Es war daher nicht verwunderlich, dass russische Kräfte an verschiedenen Stellen zum Erfolg kamen. Am 13. Dezember wurde unser I. Bataillon unter Rittmeister von Geldern der 52. Infanteriedivision unterstellt und rückte am Abend von Kolzowo ab.
Am 16. Dezember erhielt ich den Befehl am nächsten Tag mit den großen Trossen der Infanterie unserer Division in südwestlicher Richtung abzurücken. Nachdem in den frühen Morgenstunden des 17. Dezember 1941 die Fahrzeuge des Infanterieregimentes 480 unter großen Schwierigkeiten aus dem tiefen Talkessel von Kolzowo herausgeführt worden waren, konnte der eigentliche Marsch angetreten werden. Westlich Lopatino schlossen sich die Trosse des Infanterieregimentes 460 an. Tagesziel war Gorjewo, Marschleistung etwa 20 Kilometer.
Es herrschte bedeckter Himmel bei mäßigem Frost. Der Straßenzustand war bei festgefahrener Schneedecke gut. Am 18. Dezember wurde der Marsch bei gleicher Witterung unter Anschluss der Trosse des Infanterieregimentes 470 fortgesetzt. Tagesziel war Shelowosh. Die Marschleistung betrug etwa 15 Kilometer. Es trat hierbei das Kuriosum ein, das das Ende der Kolonne sein Quartier verließ als die Spitze bereits das Tagesziel erreicht hatte.
Diese Tatsache macht deutlich, mit welchem ungeheuren Fahrzeugballast unsere Infanteriedivisionen beschwert waren. Umso mehr verdienen die gewaltigen Marsch- und Kampfleistungen der Infanterie im Bewegungskrieg im Osten Anerkennung. Mit Grausen denke ich noch an unsere Märsche im Sommer 1941 zurück. Die 260. Infanteriedivision verließ in den ersten Julitagen Frankreich und marschierte nach dreitägigem Bahntransport als Heeresgruppen-, Armee-,und schließlich als Korpsreserve hinter der kämpfenden Front her, bis sie etwa ab 20. Juli als Sicherung der tiefen rechten Flanke der Heeresgruppe Mitte im Gebiet der Rokitnosümpfe ebenfalls in die Kämpfe eingriff. Durchschnittliche Tagesmarschleistung etwa 40 Kilometer!
Die Division, die bisher nur das hervorragende Straßennetz Westeuropas kannte, tat sich natürlich in dem unwegsamen Russland mit seinen wenigen und miserablen Straßen besonders schwer. Die Männer fanden sich verhältnismäßig schnell mit diesen Zuständen ab. Dagegen litten die Pferde furchtbar unter den Anstrengungen die ihnen zugemutet werden mussten. Ich war seinerzeit Chef der 8. (MG) Kompanie, die planmäßig über 22 Fahrzeuge verfügte. Während die gummibereiften MG-Wagen nicht besonders tief in den Sandboden ein sanken, dagegen aber die Oberflächenhaftung am Boden umso größer war, schnitten die schmalen Räder der Munitionsfahrzeuge und vor allem die der 2-rädrigen Granatwerferkarren, die zudem noch eine wesentlich engere Spurweite hatten, tief in den Boden ein.
Mit allen Mitteln wurde versucht, das Gewicht der Fahrzeuge zu reduzieren, um die Pferde zu entlasten. Die Reitpferde des Zug- und Kompanietrupps wurden zu Tragtieren degradiert und ihnen Munitionskästen, MG- und Granatwerfergerät als Traglasten aufgebürdet. Von den zahlreich herum laufenden Russenpferden wurde auch die geeignetsten eingefangen und ebenfalls als Tragtiere verwendet. Trotzdem verlor die Kompanie täglich ein Pferd. Eigenartigerweise versagten als erstes die schwersten Pferde, die des Futterwagens der deshalb schon nach einigen Tagen stehen gelassen werden musste.
Nach Erreichen des Marschzieles waren die Pferde häufig so erschöpft, dass man nicht wusste wie man am nächsten Tag die Fahrzeuge weiterbringen sollte. Einmal kamen die letzten Fahrzeuge nachts um 1 Uhr im Quartier an und um 4 Uhr wurde bereits wieder angetreten. Dies war an dem Tag gewesen, an dem das Bataillon einen Traktor aufgegabelt hatte mit dem meine 6 Munitionswagen geschleppt werden sollten. Das ging zunächst ganz gut, aber nach einigen Kilometern streikte das Ding und war nicht mehr in Gang zu bringen. Ich war gezwungen, nach Erreichen des Marschzieles die Gespanne 8 Kilometer weit zurückzuschicken, um meine stehen gebliebenen Munitionswagen heran zu bringen.
Mit noch größeren Schwierigkeiten hatte die Divisionsartillerie zu kämpfen, die einschließlich der schweren Abteilung vollständig pferdebespannt war. Als ich im August 1941 zum Stab der Division kommandiert war, beobachtete ich einmal einen Stellungswechsel einer schweren Batterie. Dieser wurde in 4 Etappen im zehnspännigen Zug – normal sechsspännig – durchgeführt. In Shelowosh erhielt ich den Befehl, mich umgehend wieder an der Front zu begeben und in Saworowo beim Ib der Division (Quartiermeisterabteilung, Verwundeten- und Versorgungsdienste) zu melden. Ich hätte die Führung des III. Bataillons des Infanterieregimentes 480 zu übernehmen, da Hauptmann Labrenz wegen Verwundung ausgefallen sei. Ich übergab das Kommando über die Trosse an Oberleutnant Dr. Glenz und ritt mit meinem Pferdeburschen, dem Obergefreiten Schorr aus Staffelstein die 2 Tagesmärsche am gleichen Nachmittag zurück. In meinem alten Kolzowo, wo ich kurz rastete stieß ich auf Hauptmann Merkel, der mit der Regiments-Stabskompanie 480 von Radenki nach Kolzowo verlegt worden war. Die bis dahin in Kolzowo stationierte Sanitätskompanie des Stabsarztes von Limprun war bereits für den Abmarsch gerüstet. Hier traf ich auch den Truppenarzt des I. Bataillons des Infanterieregimentes 480, Stabsarzt Dr. Walker, der von der Vernichtung dieses Bataillons berichtete: Rittmeister von Geldern gefallen, sein Adjutant Leutnant von Spieß schwer verwundet, desgleichen der Chef der 4. Kompanie, Oberleutnant Schlindwein.
(Anmerkung des Webmasters: am 17. Dezember 1941 wurde mein Großvater als Angehöriger der 10. / Infanterieregiment 480 ebenfalls erstmals verwundet)
Anschließend ritt ich nach Saworowo weiter und meldete mich befehlsgemäß beim Ib der Division, meinem Jahrgangskameraden Hauptmann i.G. Plücker. Hier erfuhr ich, dass das Infanterieregiment 480 in dieser Nacht vom 18. auf den 19. Dezember aus der Front gezogen würde, um am nächsten Tag durch Ersatz aufgefüllt zu werden.
Am 19. Dezember morgens trafen die traurigen Überreste des einst so stolzen Infanterieregimentes 480 in Saworowo ein, bestehend aus dem Regimentsstab mit Nachrichtenzug und Infanterie-Pionierzug (Kommandeur Oberst von Parseval) und dem III. Bataillon mit Stab, 10. Kompanie und 11. Kompanie unter den Oberleutnanten Beil und Rentschler und den Überbleibseln der 12. Kompanie. Außerdem existierte noch die 13. Infanteriegeschützkompanie und die 1. Kompanie des Oberleutnants Gölz, wovon sich letztere noch im Verbande des Infanterieregimentes 470 im Einsatz befand. Die Gefechtsstärke des Bataillons betrug noch 90 Mann!
Das Bataillon wurde im stark belegten Saworowo, das ungefähr 4 Kilometer hinter der Front lag, notdürftig untergebracht. Gegen Mittag des gleichen Tages rückte der Ersatz an, mit dem das Bataillon aufgefüllt werden sollte. Es handelte sich um eine Wachkompanie aus dem Generalgouvernement in Stärke von 150 Mann, meistens mittlere Jahrgänge, die bisher nur Wachdienst getan hatten und zum ersten Mal an die Front kamen. Die Bewaffnung die diese Einheit mitbrachte bestand aus – sage und schreibe – 6 Pistolen Luger 08! Man stelle sich das nur einmal vor: da kommt eine neue Kompanie Soldaten an die Front, an eine Front, die seit einigen Tagen in schweren Abwehr- und Rückzugskämpfen steht und die an mehreren Stellen schon durchbrochen ist, so dass man hinter der Front jederzeit mit dem Auftreten von durchgebrochenen Feindkräften rechnen muss und bringt an Waffen ganze 6 Pistolen mit. Sollen sich diese Männer etwa Schneeballschlachten mit den Russen liefern? Die Soldaten hatten wohl alle ihre Tornister mit der vorgeschriebenen Bekleidung und Ausrüstung, aber das, was einen Soldaten ausmacht fehlte: die Waffe!
Das Hauptproblem war zunächst die Bewaffnung des Ersatzes. Der Ib der Division und das Regiment halfen so gut es ging dadurch, dass Fahrern, Küchenpersonal und sonstige Trossangehörigen die Gewehre abgenommen wurden. Eine Maßnahme, die andererseits kaum zu verantworten war, wenn man sich vor Augen hält, dass auch Trosse und Nachschubverbände jederzeit darauf vorbereitet sein mussten, sich gegen durchgebrochene Feindkräfte ihrer Haut wehren zu müssen. Zum Beweis möchte ich hier erwähnen, dass gerade in diesen der Divisionsnachschub und die Divisionsfeldpost weit hinter der Front in Nedelnoje von einem durchgebrochenen russischen Skiverband überfallen wurden.
In dem Tempo, wie die Bewaffnung vor sich ging, wurden die Weihnachtsmänner – so hatten die alten Hasen die Ersatzleute wegen ihres fortgeschrittenen Alters und der bevorstehenden Weihnachtstage getauft – in die Kompanien eingereiht. Meine Hoffnung, die Eingliederung des Ersatzes wenigstens in einiger Ruhe durchführen und die Neulinge an die Frontluft gewöhnen zu können, wurde leider nicht erfüllt.
Aus dem Tagebuch des Majors a.D. Hellmut Gaudig